Freihandelsknuten? Wir für ohne uns!

Ein Kommentar zur Doppelzüngigkeit der europäischen Weltordnung

Ungefähr 700 Hühner besitzt der junge Landwirt, zusätzlich darf er zehn Kühe sein Eigen nennen. Er ist ein typischer Kleinbauer – wie viele andere auch. Nun aber lebt er in großer Sorge. Denn eigentlich sollten seine Produkte auf den Märkten in Übersee endlich die ersehnten Erträge abwerfen. Tatsächlich aber gerät er ausgerechnet im eigenen regionalen Umkreis ins Hintertreffen, weil er den billigeren Angeboten der neuen Konkurrenz nicht mehr auf Augenhöhe begegnen kann.

Fast täglich begegnen uns medial überbrachte Schreckensszenarien, die einen Eindruck davon vermitteln, dass – sollten die diesbezüglichen Verhandlungen zu einem Einvernehmen führen – Freihandelsabkommen wie TTIP, CETA und TISA unsere Lebensgrundlagen nachhaltig gefährden werden. In diesem Sinne erklärte etwa auch der weithin bekannte Globalisierungskritiker Jean Ziegler das geplante Abkommen zwischen den USA und Europa zu einem regelrechten “Armageddon”, das es mit aller Kraft abzuwenden gilt. “Die großen Konzerne”, so begründet er seine harsche Kritik an der globalen Finanzoligarchie, “haben heute mehr Macht, als es Kaiser oder Päpste je hatten”.

Doch zurück zu jenem jungen Mann, der allmählich an der Frage verzweifelt, ob er seine kleine Familie in Zukunft noch ausreichend versorgen kann. Und nein – dieses Beispiel stammt nicht aus Europa. Schon gar nicht aus Österreich, das in erster Linie mit Blick auf das drohende Ungemach einer industriellen Agrarwalze zunehmend furchtvoll erstarrt. Der besagte Kleinbauer ist in Kenia anzutreffen. Seine große Angst entspringt einem Freihandelsabkommen, das die EU schon 2014 mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft abgeschlossen hat – allerdings auch hierzulande weitgehend unbeachtet.

Warum aber interessiert sich kaum jemand dafür? In Europa nimmt die Kritik an Fahrt auf, weil sich die Verhandlungen mit den USA und Kanada nicht nur himmelschreiend intransparent gestalten – eine Einsicht, die aktuell nicht zuletzt den sogenannten Greenpeace-Leaks zu verdanken ist. Es zeichnet sich vor allem immer deutlicher ab, dass durch die geplanten Abkommen den grundlegenden Standards der europäischen Wohlfahrtssysteme eine nachhaltige Aushöhlung droht. Dazu zählen nicht nur wichtige Schutzbestimmungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch Umweltauflagen, das öffentliche Förderwesen sowie Qualitätsrichtlinien für Lebensmittel.

Doch manifestiert sich genau darin die Doppelzüngigkeit der europäischen Sehnsucht nach – zumeist nationalstaatlich angewandter – Eigenartigkeit. Angesichts einer sich schon sehr früh abzeichnenden Übervorteilung hat beispielsweise Kenia die Unterschrift unter das EPA-Abkommen doch in letzter Sekunde noch verweigert. Aus gutem Grunde. Schließlich verlangte die EU eine Liberalisierung von 82,6 Prozent des Marktes, was sich wiederum mit 100 Millionen Euro jährlich beziffern lässt, die dem ostafrikanischen Staat für den Aufbau der eigenen Wirtschaft vorenthalten blieben.

Bei mangelndem Wohlverhalten sind die europäischen Staaten, die selbst nur ja keine fremde Knute spüren wollen, mit allfälligen Strafen allerdings schnell zur Hand. Denn als Kenia, das ökonomische Schwergewicht im ostafrikanischen Staatenbund, auf die erforderliche Zustimmung zur Handelsübereinkunft ganz einfach warten ließ, hat die EU die stolze Nation sogleich in die Knie gezwungen – mit völlig überzogenen Zöllen auf volkswirtschaftlich bedeutende Ausfuhrwaren wie Schnittblumen, Kaffee und Tee.

Wir für ohne uns! Wer die “kannibalische Weltordnung”, wie Jean Ziegler sie bezeichnet, zum Einsturz bringen will, muss auch die Bigotterie der europäischen Verrenkungen beim Namen nennen. Die Konzerne führen ein rücksichtsloses System der Gewinnmaximierung im Schilde – und das, wie wir wissen, am besten ohne soziale und politische Kontrolle. Diese neoliberale Wahnvorstellung lässt sich jedoch aus den Angeln heben, wenn dabei auch in Europa die sich selbst begünstigende Interessenauslegung von Schuld und Unschuld endgültig in Schranken gewiesen wird.