Systemverdrossenheit

Ein Kommentar zum völkischen Frontalangriff auf die Zweite Republik

Im Juli 1934 blickte Karl Kraus auf die Februar-Ereignisse des Vorjahres und die damit verbundene Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie in Österreich zurück. “Es scheint”, schrieb er damals in der “Fackel, “der Menschennatur verhängt zu sein, durch Erfahrung dümmer und erst durch deren Wiederholung klüger zu werden, und besonders die Intelligenz muss viel mitmachen, bevor sie zu der Einsicht gelangt, dass eine Freiheit, die ihre Vernichtung herbeiführen würde, nur durch Hemmung zu retten ist.”

Geradezu hemmungslos gestaltet sich im Jahre 2016 der Siegeszug der rechtsextremen FPÖ. Noch vor einigen Wochen weitgehend unbekannt, setzte sich deren Kandidat zur österreichischen Bundespräsidentschaftswahl 2016 von seinem nunmehrigen Gegner in der Stichwahl, Alexander Van der Bellen, im ersten Durchgang doch sehr deutlich ab. Das ist eigentlich weniger auf seine Persönlichkeit zurückzuführen. Die freiheitlichen Aushängeschilder sind austauschbar, signifikant monoton bleiben hingegen immer wieder die bei demokratischen Wahlen durchsetzungsstarken Kampfansagen gegen Gleichheit und Menschlichkeit.

So will man jedenfalls außerhalb Österreichs das Argument mit der Protesthaltung gegen den Stillstand, die sich bei der Wahl am Sonntag mit 35% für Norbert Hofer nachdrücklich Luft verschafft haben soll, gar nicht so recht glauben. “Dass jetzt einer gebraucht wird”, schrieb schon am Tag danach ein Kommentator der “Berliner Zeitung”, “der ‘den Flüchtlingsstrom stoppt’, haben die Regierungsparteien zu allem Überfluss drei Monate lang sinnfällig vorgeführt und sich mit Plänen zu Grenzkontrollen und Asylverschärfungen überschlagen”. Und weiter: “Die Zäune sind binnen weniger Wochen ein Stück nationale Identität geworden.”

Damit schließen sich allmählich die Kreise. Schon Mitte der 1980er Jahre betrachtete Jörg Haider die österreichische Nation als eine “ideologische Missgeburt”. Dreißig Jahre später steht das Polit-Paradigma der Grenzziehung kurz davor, wie ein wirkmächtiger Rammbock die tragenden Säulen des republikanisch verfassten Staates niederzureißen und das politische System der Nachkriegsordnung mit großem Zuspruch der Wählerinnen und Wähler paukenschlagartig außer Kraft zu setzen. So lautet jedenfalls der Marschbefehl zum  Frontalangriff auf die Zweite Republik.

Noch ist völlig offen, welches Ergebnis die Stichwahl am 22. Mai bringen wird. Österreich ist ein geistig und strukturell rechtes Land – kaum jemand wusste es eindrücklicher zu beschreiben als Thomas Bernhard, dessen unversöhnliches Urteil, dass hierzulande Rassismus und Antisemitismus unverändert an der Tagesordnung seien, geradezu gespenstisch an Aktualität gewinnt. “Sie werden sich noch wundern, was so alles gehen wird”, ließ FPÖ-Kandidat Norbert Hofer die österreichische Öffentlichkeit bei einem seiner TV-Auftritte wissen. Anders als eine gefährliche Drohung ist das nicht gemeint. Schon unter Jörg Haider wurde auch die Losung ausgegeben, dass man – mit dem Ziel einer Dritten Republik vor Augen – schon bald dafür sorgen will, “dass in den Redaktionsstuben mehr Wahrheit geschrieben wird”.

Inwieweit der neue völkische Kurs kritischen Medien, Intellektuellen sowie Kunst- und Kulturschaffenden zu Leibe rücken wird, hängt vor allem davon ab, welcher Machtumfang ihm weiterhin zugestanden wird. Und es ist unbestritten: Wenn in der Politik der Bundesregierung nicht schon bald eine radikale Veränderung zu erkennen ist, die sich zur “dummschlauen” Anbiederung an den rechtspopulistischen Aufwärtstrend auf deutliche Distanz begibt, wird dem Marsch der FPÖ durch die Institutionen der blaue Teppich sicher auch weiterhin selbstzerstörerisch ausgelegt.

Doch es geht tatsächlich um noch viel mehr. So sehr die Österreich-Wahl für Europa eine bereits sehr hohe Alarmstufe bedeutet, so sehr steht die Europäische Union vor allem auch für eine politische Entwicklung, die selbst die Wertehaltungen und Grundsätze einer auf Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit bedachten Gemeinschaft sukzessive untergräbt. Es ist jedenfalls bereits absehbar, dass es am 22. Mai bei der Stichwahl um die Bundespräsidentschaft um eine tiefgreifende Richtungsentscheidung geht, dessen Signal nicht nur in Österreich auf lange Zeit Wirkung entfalten wird, sondern auch weit darüber hinaus unter Beobachtung steht, ob sich der autoritäre und neoliberale Feldzug gegen Freiheit, Demokratie und Menschenwürde nicht doch mit einer sichtbaren Mehrheit in Schranken weisen lässt.