Zeitenwende

Ein Kommentar zu furchteinflößenden Irrlichtern in Sprache und Politik

Die Gefahr von Irrlichtern – so die traditionsreiche Überlieferung – resultiert aus dem geheimnisvollen Umstand, dass kleine und flammenähnliche Geister dazu verlocken, vom sicheren Weg abzukehren. Die auf diese Weise Verirrten versinken daraufhin meist in einem Sumpf – und finden darin ihr jähes Ende.

Durchaus sumpfartig stellt sich in diesen Tagen auch die Gemengelage dar, deren Irrlichter die Klarsicht auf Sprache und Politik so sehr verstellen, dass auch hier eine für viele beunruhigende Abkehr von vermeintlich vertrauten Pfaden droht. Österreich steht an einer Zeitenwende – das schreiben uns jedenfalls die Medien fast täglich hinter die Ohren. Das wäre möglicherweise sogar ein Grund zur Freude – es kann jedoch auch ganz anders kommen. Denn obwohl sich Wendezeiten oftmals anfühlen wie ein wiederauffrischendes Peeling der Weltgeschichte, ist dieser mit bloßer Kosmetik nicht so leicht beizukommen.

Wenn man also dem kommenden Sonntag und damit der Stichwahl zwischen dem FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer und dem ehemaligen Parteichef der Grünen, Alexander Van der Bellen, entgegensieht, dann steht Österreich tatsächlich vor einer richtungsweisenden Entscheidung. Alleine die Aussicht, dass – und das gar nicht so unwahrscheinlich – ein Repräsentant einer rechtsextremen Partei im höchsten Amt des Staates anzutreffen ist, der seine deutschnationale, autoritäre und menschenverachtende Gesinnung wie ein Tabernakel vor sich trägt, deutet klar darauf hin: Es könnte schon bald alles nicht mehr so sein, wie es bisher war.

Und tatsächlich steht es Spitz auf Knopf. Wer also Österreich nicht dem Konjunkturaufschwung des europäischen Orbanismus opfern will, hat also am 22. Mai nur eine Wahl. Ungeachtet dessen ist die Versuchung selbstverständlich groß, den tiefgreifenden Wandel im politischen System der Zweiten Republik mehr denn je herbeizusehnen. Die österreichische Nachkriegszeit hat auch abseits der FPÖ zahlreiche Persönlichkeiten hervorgebracht, die ihr politisches Leben fast ausschließlich dem Ziel gewidmet haben, den ewigen Bund von SPÖ und ÖVP für immer zu durchbrechen. Und ja – das Ende der sozialpartnerschaftlichen Gemütlichkeit ist mittlerweile unüberhörbar eingeläutet. Dennoch überwiegt schon fast wieder die Skepsis. Die Begründung: “Es ist der Preis, den wir jetzt dafür bezahlen.”

Was ist also von all dem nun zu halten? Über Wirkung und Nebenwirkungen der Bundespräsidentschaftswahl 2016 lässt sich – zum Beispiel entlang der Angstszenarien von “Verfassungsputsch” und “Dritter Republik” – sicherlich trefflich debattieren. Von einer leichtfertigen Verwendung des Begriffs “Zeitenwende” ist trotzdem auf alle Fälle dringend abzuraten. Denn wie war das noch in den 1980er Jahren? Mit dem steten Rückbau des sozialen Wohlfahrtsstaates hat der repressive Triumphzug der Neoliberalen doch schon damals so richtig begonnen. Der Fetisch einer steten Enteignung des Gemeinwesens hat sich gegen Ende des Kalten Krieges wie eine unheilvolle Giftwolke über dem europäischen Kontinent breit gemacht.

Fast im gleichen Atemzug der Geschichte wendete dann nicht nur der Aufstieg Jörg Haiders die Zeiten, sondern mit der Wahl Kurt Waldheims auch die NS-Vergesslichkeit eines schon damals tief gespaltenen Landes sowie zu Beginn des 21. Jahrhunderts das austro-thatcheristische Regime unter ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Die globale Finanz- und Spekulationskrise schließlich hat uns mit der rasanten Pauperisierung ihrer unzähligen Opfer seit 2008 die letzte ganz große historische Zäsur beschert. Österreich ist somit seit langem gut beraten, sich warm anzuziehen und den Unmut endlich in breiten Widerstand zu übersetzen. Irrlichternde Zeitenwenden hin oder her.