An einem frühen Morgen im Februar des Jahres 1989 bekam ich die Eiseskälte der großen Welt in einer mir bislang nicht bekannten Intensität zu spüren. Globalität war für mich, nur wenige Monate vor Beendigung der Mittelschule, noch keine geostrategische Dimension, die sich mit jenem Empire vergleichen ließe, das schon eineinhalb Jahrzehnte später als Chiffre für die neue Weltordnung große Popularität erlangen sollte. Es war mir zu diesem Zeitpunkt nicht geläufig, dass eine Reorganisation der Disziplinargesellschaft vonstattenging, deren Institutionen die Machtsphäre nun auch über Bewegungen und Strukturen, Netzwerke und Unternehmen, ja sogar über persönliche Beziehungen erstreckten. Das war mir alles noch sehr fern. Und dennoch verspürte ich so etwas wie historische Tragweite in diesen wenigen Minuten, als der Direktor meiner Schule mich zu sich rufen ließ.
In diesem Februar des Jahres 1989 besuchte ich das Bundesgymnasium in Wels. Seit 1981 war ich Woche für Woche, von Montag bis Samstag, mit dem Zug aus dem zwanzig Kilometer entfernten Grieskirchen angereist, um mich auf jene Zukunft vorzubereiten, von der Jugendliche unentwegt erfahren mussten, dass sie mit der Beschaulichkeit vorangegangener Generationen nicht mehr zu vergleichen sei. Vielleicht ging mir die didaktische Unschärfe dieses Fingerzeigs blitzartig durch den Kopf, als ich nun Leo Filsecker, dem damaligen Schulleiter, gegenüber stand. So ganz genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Sehr wohl aber habe ich bis heute ein eindrückliches Bild vor Augen, wie in inegalitären Systemen, zu denen Bildungseinrichtungen nun allemal zu zählen sind, Verbote und Aufforderungen zur Unterlassung ausgesprochen werden. “Das Plakat muss unverzüglich weg!” Ich hatte, um aufrichtig zu sein, im Vorhinein so etwas wie eine leise Ahnung. Überraschender traf mich da schon die bis in die Bundeshauptstadt ausholende Belehrung. “In unserer Schule haben vermummte Gestalten nichts verloren – auch nicht an den Wänden. Diese linken Rabauken haben noch vergangene Woche den Ordnungskräften vor der Wiener Staatsoper eine Straßenschlacht geliefert, eine Ungeheuerlichkeit, zu der es bei uns nicht kommen darf. Also runter mit dem Plakat!”
Mir blieb somit nichts anderes übrig, als über das nächsthöhere Stockwerk den Rückzug anzutreten. Auf halber Strecke schmückte es den Aufgang, das von mir affichierte Delikt, das nun nicht mehr die innere Balance pädagogischer Anstalten ins Wanken bringen durfte. “Eat the rich!”, die Kampfparole der Opernballdemo 1989, war darauf nicht zu lesen. Es gab keinerlei Gewaltsymbole und auch nichts, was nur irgendwie als ein Aufruf zum Landfriedensbruch interpretiert werden konnte. Die Illustration beschränkte sich auf das Abbild einer Person, die sich eine Wollmütze über das Gesicht gezogen hatte. Das Sujet selbst litt ein bisschen unter der unvollkommen angefertigten Kopie im Din-A3-Format. Es war dem aktuellen Plattencover von IEP (Immortal Erected Pop) entnommen, einer Combo aus dem Umfeld des in Schwertberg ansässigen Kulturzentrums “Kanal”. Als Ankündigungsplakat für das erste “Anti-Frust-Fest” in Wels durchbrach es bestenfalls die totalitäre Monotonie des Schulalltags. Was sollte also daran das System zersetzen?
Der Ort der schulmeisterlichen Maßregelung, das Direktorzimmer mit biederem Fensterblick auf die Welser Schauerstraße, entpuppte sich schnell als Nebenschauplatz des Zeitgeschehens. Der eigentliche Brennpunkt lag vielleicht 20 Gehminuten vom Gymnasium entfernt, etwa dort, wo noch im Stadtzentrum gemeinhin die Suche nach den ersten Hinweistafeln auf die Ausfahrtswege ihren Anlauf nimmt. Hier türmt sich, am Rande einer Bahntrasse, seit den 1980er Jahren ein sozio-kulturelles Zentrum auf, das sich vom stillgelegten Zweck der kommunalen Verarbeitung von Tierkörpern zumindest in der Namensgebung nicht so einfach trennen wollte. Der Schlachthof Wels blieb kurzerhand der Schlachthof Wels, aus dem irgendwann – der semiotische Taschenspielertrick lässt sich für mich nicht genau datieren – ein Schl8hof Wels geworden ist.
Ich selbst habe nie näher ergründet, warum keine andere Bezeichnung dafür gefunden wurde. Vielleicht sollte eine Neudeutung des ehemals blutigen Industriezweigs, dessen Verwurzelung in religiösen Riten noch immer kulturelle Assoziationen ins Bewusstsein ruft, die Menschen der Stadt einfach nur von der unnachgiebigen Konfrontationsbereitschaft überzeugen. Doch auch dieser Gedanke hat sich mir nie so recht erschlossen. Später, nach langen Jahren der eingehenden Beschäftigung mit Herrschaft und Widerstand, durfte ich bei Michael Hardt und Antonio Negri immerhin folgendes dazu erfahren: “Der Feind”, so ist in Multitude nachzulesen, “tritt nicht länger konkret und lokalisierbar in Erscheinung, sondern hat heute etwas Flüchtiges und Unfassbares, wie die Schlange im imperialen Paradies”. Folgerichtig gibt sich das “Gesicht des Feindes” bestenfalls in den “Nebelschleiern der Zukunft” zu erkennen. Als “Symptom einer in Unordnung geratenen Wirklichkeit”. Und – nicht minder bedrohlich für das Funktionieren von Disziplin und Kontrolle – es steckt in ihm “etwas Monströses”. Hier schließt sich der Kreis der Erinnerungen an meine ersten Gehversuche durch die Wirrnisse der neuen Welt. Denn was dem Direktor meiner Schule monströs erscheinen musste, nämlich die bildhafte Konstruktion einer auratischen Gefahr, erteilte mir eine wichtige Lektion in der Begegnung mit Asymmetrien.
Ich selbst war zu dieser Zeit in einem Grieskirchner Kulturverein aktiv. Im Vergleich zum Welser Schlachthof stellte sich der Roßmarkt 1, wie das historisch imposante, aber mit den Jahren zunehmend einsturzgefährdete Haus aufgrund seiner Anschrift in der Innenstadt geheißen wurde, wie ein freibeuterische Enklave dar, die mit wenigen Quadratmetern das Auslangen finden musste. Hier stritten die Vereinsverantwortlichen in nächtelangen Debatten um das Kulturprogramm, rührten für das Anbringen der Plakate eigenhändig hunderte Kübel Tapetenkleister an, erledigten bei Veranstaltungen den Schankdienst und mussten anschließend auch selbst wieder Reine machen. Die immer wieder neu erstrittene Autonomie erwies sich nicht selten als Knochenarbeit, aber sie war für uns zugleich der Schlüssel für die so wichtige Selbstbehauptung. Und manchmal lässt sich auch aus der Kleinheit etwas Mut schöpfen, den ich mir endlich fasste, als ich Ende 1988 mit der Idee eines alternativen “Maturaballs” den Schritt in den Welser Schlachthof wagte. Mit dem simplen Konzept eines “Anti-Frust-Fests” eröffnete sich mir eine andere Galaxie. Es war nicht nur die Größe des Areals, die mir Respekt einflößte. Auch die Verfahrensweisen in der Abwicklung von Events, die sich nicht mit einem Fassungsvermögen von 70 Personen begnügen wollten, erwiesen sich in der Rückbetrachtung als “interkulturelle” Bereicherung. Da war zunächst die Einbettung des Betriebs in die städtische Verwaltung, was aber soweit nichts zur Sache tat, weil mir Wolfgang Wasserbauer, der Geschäftsführer, mit geduldiger Glaubwürdigkeit versicherte, in der Ausübung seines Amtes weitgehend freie Hand zu haben. Für jeden Bereich war irgendjemand zuständig. Ein regelrechtes System der Arbeitsteilung, das meinen anarchischen Impetus vor allem zu dem Zeitpunkt auf die Probe stellte, als ich zur Beschaffung der streng nummerierten Eintrittskarten im Welser Rathaus die richtige Magistratsabteilung zu erkunden hatte.
Doch ich durfte im und durch den Schlachthof auch bald erfahren, dass Differenzen nicht nur Konfliktlinien zum gymnasialen Despotismus schärfen, sondern auch die Substanz bilden, auf der gesellschaftliche Organisation begründet werden kann. Die kulturpolitische Vernetzung, für die ich mich schon wenige Jahre später im Rahmen der Kulturplattform OÖ. begeistern konnte, muss sich auf Zentren und Räume stützen, die Misstöne etablieren, Artikulation und Selbstermächtigung fördern und auch – hier erweist sich der Schlachthof Wels tatsächlich als frühe globalisierungskritische Versuchsanordnung – die Störung der Mächtigen erproben. Es steht hier nicht zur Debatte, ob und inwieweit es in zweieinhalb Jahrzehnten gelungen ist, die Stadtgemeinde mit Dissonanzen im Programm und durch streitbare Impulse zu verändern. “Wir befinden uns”, schrieb Gilles Deleuze über die Kontrollgesellschaft, “in einer allgemeinen Krise aller Einschließungsmilieus, Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, Schule, Familie.” Der Schlachthof Wels kann sich dem zwar nicht entziehen, sich aber sehr wohl wie eine radikale Maschine gegen die neoliberale Subjektivierung erheben, gegen das Spektakel und den Raub des öffentlichen Eigentums. Diese Maschine versucht sich an der Rekonstruktion eines neuen kollektiven Handelns. 25 Jahre Schlachthof Wels erzählen nicht von Revolution und Umbruch, auch nicht von der Befreiung aus dem Spektakel und der kapitalistischen Versklavung. Sehr wohl aber lässt sich damit einer Zukunft die Stirn bieten, die sich bereits mit Armut, Überwachung und Krieg unserer Gegenwart bemächtigt hat. Die globalen Eiseskälten zwingen den Schlachthof unentwegt zur Reflexion. Umso eindringlicher sei daher zum abschließenden Geburtstagsgruß noch einmal Gilles Deleuze zitiert: “Die Windungen einer Schlange sind noch viel komplizierter als die Gänge eines Maulwurfbaus.”