Am Schulhof des 21. Jahrhunderts

Im Internet eröffnet sich Jugendlichen eine Welt, wie sie wirklich ist

Der Schrecken lässt Sarah einen kurzen Augenblick erstarren. Im Einkaufszentrum wird sie von einem jungen Mann angesprochen, der ohne große Umschweife von ihr wissen will, wann neue Partyfotos im Netz zu sehen sind. Er nennt die Schülerin beim Namen, was durchaus Vertrautheit zwischen den beiden vermuten lässt. Jedoch hat Sarah ihr Gegenüber noch nie zuvor gesehen. Das Unbehagen baut sich schließlich zur Angst auf, als sich derartige Vorfälle noch am selben Tag wiederholen. Auch der Vater eines Mitschülers sowie der Busfahrer rufen dem Mädchen mit einem frivol unverschämten Lächeln schmerzlich in Erinnerung, dass die auf Facebook veröffentlichten Schnappschüsse ihrer durch Tabletten und Alkopops verursachten Entgleisungen wohl doch nicht im diskreten Kreise der Freundinnen verblieben sind. Und es kommt noch schlimmer: Der Albtraum hat kein Happy End!

Sarahs Geschichte ist kein Einzelfall und soll vor allem Kindern und Jugendlichen eine Lehre sein. Das ist in den USA und nun auch in Europa die eindringliche Botschaft einer wachsenden Zahl von Videoclips, die sich als Warnhinweise für den anhaltenden Boom der Web 2.0-Anwendungen verstehen. Tatsächlich scheint die Stimmung massiv umzuschlagen. Waren es noch vor wenigen Jahren die Jubelmeldungen über die große Beliebtheit des Do-it-yourself-Internet und seiner innovativen Möglichkeiten, ohne besondere technische Kenntnisse persönliche Fotos, Videos und Blogeinträge einer globalen Öffentlichkeit vorzustellen, überschlägt sich die aktuelle Berichterstattung in den Medien mit Schreckensmeldungen, dass immer mehr Minderjährige ausgerechnet durch die neuen sozialen Netzwerke einer unheilvollen Entwicklung entgegen gehen. Auch die österreichische Kinder- und Jugendanwaltschaft schlägt Alarm. Sie berichtet immer öfter von “Hänseleien, Beschimpfungen, Hasstiraden”, die bereits als “Cybermobbing” zu qualifizieren sind. Das Internet, so die nüchterne Feststellung, habe es eben erleichtert, “andere niederzumachen”. Großbritannien beklagte schließlich im Sommer 2009 das Schicksal eines jungen Mädchens, das angesichts der Verunglimpfungen im Netz keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich kurzerhand das Leben zu nehmen. Die Öffentlichkeit reagierte zugleich ratlos und schockiert, nur der englische Erzbischof Vincent Nichols stand gleich mit Erklärungen bereit. “Internet und Mobiltelefone entmenschlichen das Gemeinschaftsleben. Jugendliche werden dazu ermutigt, Freundschaft als Ware anzusehen.”

Digital Natives

Doch mit Aufrufen zu einem Kreuzzug gegen die Technologien unserer Zeit ist dem Problem nicht beizukommen. Vor allem bedarf es zunächst einer gründlichen Analyse der Rolle und Bedeutung des Social Web im Alltag junger Menschen, bevor übereilte Reaktionen die Nutzung und Entwicklung der digitalen Kulturtechniken auch nur irgendwie beschränken. Computer, Handys und Internet, darin ist sich die aktuelle Forschung einig, zählen jedenfalls zu den konstitutiven Merkmalen einer Generation, die mittlerweile gerne als Digital Natives bezeichnet wird. Online-Plattformen wie Facebook, Twitter, studiVZ und die damit verbundenen Möglichkeiten der Vernetzung, Partizipation und Selbstdarstellung werden insbesondere von den Jungen auf vielfältige Weise genutzt, weshalb sich die Metapher eines Schulhofs des 21. Jahrhunderts für diese heterogene Sphäre durchaus eignet. Erstaunlich ist, dass zwar lange über die Faszination der neuen Beziehungsgeflechte im Netz gerätselt, aber eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung nie ernsthaft gefördert wurde. Medien, Konzerne, NGOs sowie auch Politik und Parteien haben es hingegen vorgezogen, mit dürftigen Blogs, belanglosen Zwitschereien und aus der Hüfte geschossenen Bildern so schnell wie möglich auf den neuen Hype aufzuspringen, anstatt den Blick für die Kehrseite der Medaille zu schärfen. Somit fällt jetzt allen auf den Kopf, dass ein kritischer und selbstbestimmter Umgang mit Medien und der Produktion ihrer Inhalte noch nicht in ein umfassendes Verständnis von Allgemeinbildung Eingang gefunden hat. Wenn also auch Jugendliche seit jeher zu einem passiven Konsum medialer Angebote angehalten werden, ist es wenig verwunderlich, dass sich nur wenige dafür interessieren, welche Nachhaltigkeit und Dynamik dadurch erzeugt werden kann. Die meisten fühlen sich in den vermeintlich privaten Gemeinschaften sicher – eine Fehleinschätzung, die fatale Folgen haben kann.

Wer sich nämlich einem sozialen Netzwerk anschließt, nimmt in Kauf, dass personenbezogene Informationen zu kommerziellen Zwecken verwendet und ausgewertet werden. Dass damit ein lukratives Geschäft zu machen ist, lässt sich anhand von MySpace aufzeigen. Die Musik-Plattform zählte schon 2005 zu den erfolgreichsten Angeboten im Internet und wurde von Rupert Murdoch um 580 Millionen Dollar gekauft. Der US-amerikanische Medienmogul wusste schon sehr früh, dass sich die Website vor allem auch unter Jugendlichen zu einem Massenphänomen entwickeln werde. Deren mannigfaltige Daten geben Auskunft über Vorlieben, kulturelle Trends und Nutzungsverhalten, das lässt sich vortrefflich vergolden. Online-Communities werden aber auch immer öfter von Unternehmen herangezogen, um nähere Einblicke in das Privatleben und Freizeitverhalten der Belegschaft zu gewinnen. Was in der vermeintlichen Kuschelecke der digitalen Freundschaft mitunter als unüberlegte Äußerung herumgereicht wird, entpuppt sich nicht selten schon Tage später als Kündigungsgrund. Und zu schlechter Letzt tummeln sich im Dickicht der Social Networks auch jene, die oftmals anonym nur die eine Absicht verfolgen, andere zu verleumden, mit Unwahrheiten zu überschütten und auf den Pranger zu stellen.

Referenzrahmen Alltagswelt

Doch was sich in der digitalen Welt an Hass, Rassismen, psychischer Gewalt, Gaunereien und Missachtungen der persönlichen Integrität auftut, ist lediglich ein Abbild gesellschaftlicher Realitäten, die auch am Arbeitsplatz, in der Schule und nicht zuletzt an der Kassa des Supermarkts anzutreffen sind. Auch hier wird der Kaffee zum Vorteilspreis eigentlich sehr teuer bezahlt, weil die Vergünstigungskarte eine Registrierung voraussetzt, mit deren Daten die Handelskette gute Geschäfte macht. Kurzum: Im Internet eröffnet sich den Jugendlichen eine Welt, wie sie wirklich ist. Wer also nach rigiden Schutzmaßnahmen ruft, die schon erste Konturen von Zensur und Eingriffen in die freie Meinungsäußerung annehmen, muss das Augenmerk doch zuallererst auf jene sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen lenken, die Heranwachsende heute allüberall umgeben.

Mit diesem Perspektivenwechsel lässt sich auch sinnvoller über Strategien und Initiativen nachdenken, die eigentlich genau dort verstärkt ansetzen sollten, wo die Entwicklung und Nutzung von Technologien nicht mehr alleine den Paradigmen von Konsum und Profit untergeordnet sind. Eines der anschaulichsten Beispiele, dass gerade auch Jugendlich für eine kritische und differenzierte Auseinandersetzung mit Online-Inhalten zu gewinnen und zu begeistern sind, ist das Projekt wahlkabine.at. Die Politik-Orientierungshilfe im Internet stellt regelmäßig vor Wahlen wichtige Fragen zu den Bereichen Umwelt, Beschäftigung, Migration, Gesundheit und Demokratie. Nach deren Beantwortung weist das Ergebnis den Grad der Übereinstimmung mit den wahlwerbenden Parteien aus. Das erfolgreiche Tool weckt seit seinem erstmaligen Antreten zu den Nationalratswahlen 2002 großes Interesse sowohl an Politik als auch an neuen Vermittlungsformen. Denn abgesehen von der mittlerweile umfangreich angewachsenen und öffentlich abrufbaren Sammlung von Parteienpositionen und Stellungnahmen zu verschiedenen Sachthemen, schafft das Projekt auch den medialen Raum zur Diskussion von Chancen und Risiken der neuen Technologien und ihrer gesellschaftlichen und demokratiepolitischen Implikationen. Jugendliche machen sogar sehr rege von der Möglichkeit Gebrauch, sich interaktiv daran zu beteiligen, und überraschen immer wieder mit kritischen Statements und Interventionen, die dazu aufrufen, nicht allen Verlockungen des Hightech-Zeitalters blind zu erliegen.

Perspektive

Das nährt die Hoffnung, dass sich vielleicht eines Tages am Schulhof des 21. Jahrhunderts eine ganze Generation erhebt, die den Medienkonzernen nicht mehr länger als hilflose und passive Spekulationsmasse zur Verfügung stehen will. Vielleicht erzählen flotte Clips in Zukunft davon, dass sich die gutgläubige Schülerin Sarah auch weiterhin die eine oder andere Entgleisung leisten darf, wobei über Facebook niemand mehr davon erfährt. Der Name erinnert bestenfalls noch als nostalgische Anekdotensammlung an die frühen Jahre der sozialen Netzwerke im Internet. Das liegt dann jedoch lange zurück und sorgt bei Sarah auch nicht mehr für Angst und Schrecken. Denn sie kommuniziert ihre aufrührerischen Aktionspläne schon längst über Kanäle, die sie sich im Netz der Netze selbst geschaffen hat.