Das stereoskopische Sehen zählt für den Menschen zu den Glücksfällen der Evolution. Die damit verbundene Fähigkeit zur Tiefenwahrnehmung ermöglicht vor allem die Orientierung im Raum. Der einzige Haken dabei: Das Gesichtsfeld ist dennoch eingeschränkt, im schlimmsten Fall sogar zu einem Tunnelblick verengt, was gar nicht selten dazu führt, dass Vorkommnisse und Bewegungen, die nicht im Fokus liegen, eben auch nicht zu erkennen sind. Das ist mitunter von großem Nachteil, für die SPÖ allerdings keine Rechtfertigung, sich nach der Rückkehr zur Regierungsmacht und der Wiedererlangung des Kanzleramts einem grundlegenden Politikwandel zu verweigern.
Gedämpfte Erwartungen
Die Erwartungen waren angesichts einer Neuauflage der großen Koalition ohnehin gedämpft. Niemand schenkte den Vorwahl-Bekenntnissen, dass einem Machtwechsel am 11. Jänner 2007 auch eine Kursänderung mit tief greifenden politischen und gesellschaftlichen Erneuerungsansprüchen folgen werde, allzu großen Glauben. Nachdem aber mit der Verteilung der Schlüsselressorts wie Finanzen, Wirtschaft, Arbeit sowie auch innere Sicherheit die tatsächliche Einflusssphäre einer unverändert national-konservativen ÖVP bekannt geworden war, musste sich Unmut regen, der sich auch aus einer herben Enttäuschung bei der sozialdemokratischen Neuordnung der kultur- und medienpolitischen Agenden speiste. Um eindrücklich zu vermitteln, dass die seit dem Jahr 2000 anhaltende Ära des Misstrauens, der politischen Zensur, der Strukturzerschlagungen sowie der Gängeleien nun ein Ende gefunden hat, ist ein Programm erforderlich, das ein Gegenmodell entwirft und re-politisiert. Dazu zählen nicht zuletzt die Gewährleistung unabhängiger Grundlagen der künstlerischen und kulturellen Arbeit, Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Förderverwaltung, die Stärkung bislang diskriminierter und unterrepräsentierter Positionen, die Investitionsbereitschaft zur Etablierung eines sozio-kulturellen Mediensektors sowie eine klare Linie gegen Copyright-Diktate und die zunehmende Privatisierung der Kunst- und Wissensproduktion.
Die Produktionsstätten selbst bereiten schon jetzt einiges Kopfzerbrechen: Die neue Bundesregierung war noch keine Woche angelobt, stürmte bereits die Universität für angewandte Kunst nach vorne. In Sorge, ob “das Bild der ‘Kulturnation Österreich’ erfolgreich aufrecht erhalten werden kann”, wolle man nun, so schreibt Rektor Gerald Bast gemeinsam mit der Hochschülerschafts-Vorsitzenden am 17. Jänner in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Gusenbauer, das Regierungsübereinkommen beherzigen. Dieses besagt im Kapitel “Bildung und Wissenschaft”, dass Studienbeiträge refundiert werden, wenn die Studierenden bereit seien, “gemeinnützige unentgeltliche Tätigkeiten” zu leisten. Des Rektors Angebot: Auch die jungen Kreativen sollten schon bald im Ausmaß von 60 Stunden pro Semester an Kunstvermittlungsprogrammen teilnehmen, mit Bürgerinnen und Bürgern auf den Straßen über die Restaurierung und Konservierung von Kunstwerken sprechen, über die Funktion von Kunst in unserer Gesellschaft sowie auch über Ziele und Zwecke von Kunstunterricht und Kunststudien. Doch wovon sollen – vorausgesetzt, das Haus am Oskar-Kokoschka-Platz findet bei den vielen Ehrenamtsbegehrlichkeiten Berücksichtigung – die Auszubildenden erzählen? Werden sie genug Courage aufbringen, mit wütender Stimme zu beklagen, dass Prekarisierung und Existenzangst um sich greifen und die Universität offenkundig auf Beschleunigung drängt, anstatt mit ihrem öffentlichen Gewicht ein Ende des Lohndumpings und der Ausbeuterei zu fordern? Dürfen sie freimütig dafür werben, der Entpolitisierung im Kunst- und Kulturbetrieb eine radikale Absage zu erteilen?
Aufgeschobener Paradigmenwechsel
Wenige Monate vor seinem Abschied aus der Regierungsverantwortung durfte sich ÖVP-Kunststaatssekretär Franz Morak in einem seiner letzten Interviews genüsslich damit rühmen, die Kulturpolitik von der Gesellschaftspolitik gelöst zu haben (Salzburger Nachrichten, 8. August 2006). Claudia Schmied, die neue SP-Ministerin für Kunst und Kultur, hat sich in den ersten Wochen ihrer Amtszeit in erster Linie durch ihre Verantwortung für das Unterrichtsressort hervorgetan. Die medial gefeierte Aufstockung des Lehrpersonals darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass sich die Handschrift der ÖVP in eine Kürzung der Ermessensausgaben von vier Prozent bis zum Jahr 2008 eingeschrieben hat. Die Wiederherstellung einer Kunst- und Kulturpolitik unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen und gesellschaftlichen Relevanz fällt hier bereits den kulturkämpferischen Ellbogen des Neo-Finanzministers Wilhelm Molterer zum Opfer, noch bevor das Ministerium inhaltliche Ziele und Schwerpunkte entwickelt hat, die der stimmenschwächeren Regierungspartnerin eigentlich einen Paradigmenwechsel abverlangen sollten. Die überraschende Abberufung des von der ÖVP in letzter Sekunde vor der Machtübergabe installierten Kunstsektionsleiters Helmut Wohnout mag für ein erleichtertes Aufatmen unter den Kulturschaffenden gesorgt haben, ist aber noch kein großer Wurf.
Der Tunnelblick gilt als signifikantes Symptom für die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, Dinge wahrzunehmen, die außerhalb dessen liegen, wofür sich der/die Betroffene aktiv interessiert. Das Ende der Wende zeichnet eine ernüchternde erste Bilanz: Noch hat die SPÖ vom evolutionären Startvorteil der Tiefenwahrnehmung keinen Gebrauch gemacht und es verabsäumt, die hegemonialen Umtriebe der schwarz-blauen Nachlassverwaltung in der großen Koalition in ihre Schranken zu weisen. Kunst und Kultur warten derweil auf neue Stunden des Widerstands.