Zurück zu Degen und Pistole?

Das Freie Mediencamp nimmt Kurs auf einen notwendigen Konflikt

“Wenn Menschen sich nicht aussprechen und strittige Probleme durch Argumentation und freie Rede lösen können, nehmen sie ihre Zuflucht zur primitiven Beweisführung per Degen und Pistole.” Nach der Rückkehr von einer Reise durch europäische Städte brachte der englische Dramatiker Jerome K. Jerome seine Fassungslosigkeit über die Häufigkeit von zumeist tödlichen Duellen mit dieser Mutmaßung zu Papier. Seine Beobachtungen stammen aus dem Jahr 1858 und fanden bald Eingang in die Vielzahl der zu dieser Zeit als Bestseller beliebten Reiseberichte.

Auch wenn die Metropolen von damals mit jenen von heute nicht zu vergleichen sind, das Kräftemessen durch ungezügelte Waffengewalt schon lange nicht mehr dem Alltagsbild angehört, lässt sich doch der Schluss ziehen, dass die Frage nach geeigneten Rahmenbedingungen einer demokratisch verfassten und pluralen Gesellschaft offensichtlich die Jahrhunderte durchzieht. Zeit genug – möchte man meinen -, die von der Politik dazu genutzt werden konnte, auf eine strukturelle Grundversorgung zu achten, die vor allem auch ausreichende Möglichkeiten zur freien Artikulation von Meinung und sozio-kulturellen Ausdrucksformen zur Verfügung stellt. Wenn dem nur so wäre.

Schauplatzwechsel in das Wien des Jahres 2003: Im versteppten Ödland entlang der Trennlinie zweier Bezirke ist der Karlsplatz seit dem 27. Juni um eine Postanschrift reicher. An diesem Tag errichteten Public Netbase, Radio Orange 94.0 und PUBLIC VOICE Lab gemeinsam mit MALMOE und der IG Kultur Wien auf der einsamen Wiese neben dem Projectspace der Kunsthalle als Protestzeichen ein Freies Mediencamp. Die spontane Aktion stand keineswegs zufällig in einem engen Zusammenhang mit dem Postulat der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift zum Schwerpunkt Wiederaneignung der Stadt (Kulturrisse 02/03). In den Stadtraum einzugreifen, sich Platz zu verschaffen, ist notwendig, wann immer das “Einheitliche, das Verregelte und das Reguläre” zu problematisieren ist. Mit dem Protestzelt und den Containern am Karlsplatz hat dieser Anspruch nun einen neuen Ort gefunden. Alleine in den ersten acht Wochen wurden mehr als fünfzig Veranstaltungen gezählt. Deren Spektrum spiegelte vor allem jene Kontexte wieder, die das Mediencamp inhaltlich füllen sollten. Dazu zählten Debatten zu Themen wie “Kultur und GATS”, das diskursive Durchstöbern der Geschichte der Hausbesetzungen in Wien, sowie auch diverse Anschauungsbeispiele einer widerständigen medien-kulturellen Praxis wie etwa eine kollektive Befreiung der Microsoft Spielkonsole Xbox von ihrem proprietären Betriebssystem. Regelmäßig zu Gast war vor allem auch die Wiener Polizei. Irgendwann hat sie an der Rechtmäßigkeit der ungewöhnlichen Spielstätte nicht mehr zweifeln wollen und ebenso wenig nach der Anmeldung gefragt. Eine solche hat jedoch nie existiert. Der Versuch, das Projekt bei der Bundespolizeidirektion als eine politische Versammlung genehmigen zu lassen, war schließlich schon Wochen zuvor an der Einschätzung eines leitenden Beamten gescheitert, dass an der Manifestation für eine demokratische Medienlandschaft kein politischer Charakter festzustellen sei.

Der Schritt einer eigenmächtigen Inbesitznahme städtischen Raumes soll der Öffentlichkeit ins Bewusstsein rufen, dass die Grundvoraussetzungen der Freien Medien, allen voran deren Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, in Österreich ganz massiv in Frage gestellt sind. Vor allem die Offenheit in Zugang, Partizipation und Vielfalt sehen sich einer akuten Gefährdung ausgesetzt. Die Vorgeschichte reicht weit zurück und ist nicht zuletzt Beweis dafür, dass auch das Rote Wien die sich immer deutlicher abzeichnende Berlusconisierung der Kultur und Medien dieses Landes keineswegs in Schranken weist.

Wurde noch vor mehr als einem Jahrzehnt auf Befehl von SP-Innenministern zu Hubschrauberjagden auf Piratenradios geblasen, dabei so manche Hochschule mit gezogenen Faustfeuerwaffen gestürmt, um “rebellische Antennenbäume” auf den Dächern auszuheben, schwenkt die sozialdemokratische Bundespolitik mittlerweile die Flagge für eine medienpolitische Reform: Die “Verfassungsinitiative Medien- und Informationsfreiheit” fordert seit 2001 eine “Staatszielbestimmung zur Erhaltung der Medienvielfalt” mit einem “Auftrag an Gesetzgebung und Vollziehung, für eine Erhaltung der Medienvielfalt zu sorgen, aktive Maßnahmen zur Erhaltung der Meinungsvielfalt durch private, nicht-kommerzielle und öffentlich-rechtliche Medien”, weiters für einen “Ausbau der Presseförderung zu einer allgemeinen Medienförderung auch für Freie Radios, Anbieter von Internetprodukten, Plattformen für Privatfernsehen” sowie für eine “Reform im Sinne des Dreisäulenmodells”. Hier manifestiert sich ein Stimmungswandel. Die Glaubwürdigkeit ist allerdings an der Praxis zu überprüfen. Also dort, wo die SPÖ – so wie in Wien – nicht in Opposition ist, sondern sogar allein regiert und folglich auch Kompetenz zur Umsetzung ihrer Ziele besitzt.

Im Mai 2001 einigte sich die neue Stadtregierung mit den Grünen auf 23 gemeinsame Projekte. Im Kapitel “Kultur und Medien” steht seitdem an erster Stelle: “Förderung der freien Medien – Radio, TV und Internet”, hier insbesondere eine verstärkte “Förderung von Radio Orange 94.0” sowie von “Institutionen und Projekten im Bereich Netzkultur”. Allen voran sollte jedoch ein offener und gemeinnütziger Fernsehkanal geschaffen werden. Dieses Vorhaben erwies sich im Mai 2003 als Indikator und Lachnummer der realen politischen Interessen – oder frei nach Karl Lueger, dem populistischen Wiener Bürgermeister des frühen 20. Jahrhunderts: “Was, wer, wie freie Medien sind, bestimmen wir!”

Kaum hatte sich auf Grundlage einer Machbarkeitsstudie und nach einjährigen Vorgesprächen mit der Stadt ein umfassendes und kompetent besetztes Komitee zum Zwecke einer zügigen Umsetzung gebildet, musste dieses kurz darauf fassungslos zusehen, wie einzelne Personen diskreditiert und mit Konsequenzen in ihren “Brotberufen” bedroht wurden. Dafür verantwortlich zeichnet Franz Burda, den – die zeitliche Koinzidenz ist nicht von der Hand zu weisen – die Wiener Stadtregierung Anfang Mai zum neuen Medienbeauftragten ernannte. Der Protest gegen dessen Unkenntnis banalster kultureller und medienpolitischer Zusammenhänge, die einherging mit einer unseriösen, brachial-bauernschlauen Strategie der Desintegration einer gewachsenen Szene, ist an den Containern des Freien Mediencamps an vorderster Stelle abzulesen.

Parallel zur Demontage des Trägerkomitees eines zukünftigen Offenen Community TV war im Frühjahr auch die zuletzt gemeinsam verhandelte Lösung für Orange 94.0, das Wiener Freie Radio, nicht mehr aktuell. Nach eineinhalb Jahren Verhandlungen mit der Stadt um eine Basisförderung war von den bis dahin erzielten Ergebnissen plötzlich keine Rede mehr. Nicht nur, dass damit der so dringend notwendigen längerfristigen Absicherung eines partizipativen Radiobetriebs eine Absage erteilt wurde, auch die kurzfristige Finanzierbarkeit ist infolge nicht eingehaltener Zusagen aus dem Rathaus unmittelbar gefährdet.

Bis dato bleibt aus dem Rathaus eine einleuchtende Erklärung ausständig, warum bereits für gut Befundenes negiert wird und die Devise lautet: “Zurück an den Start!” So drängt sich der Eindruck auf, dass die Erstellung von Konzepten und Studien vor allem einer schikane-ähnlichen Beschäftigungstherapie für eine ohnehin um die Existenz ringende Szene dient.

Neben der Verschleppung der Basisförderung machen sich nun auch Avancen breit, die Unabhängigkeit autonomer Medienprojekte in der Stadt überhaupt in Frage zu stellen. Jedenfalls wurde die Sorge bislang keineswegs entkräftet, dass gewachsene emanzipatorische Initiativen ganz offensichtlich einer rigiden Kontrolle unterzogen werden sollen. Dabei ist – neben der uneingeschränkten Selbstbestimmung der Programminhalte – die Autonomie über die Trägerschaft und Strukturierung der Projekte das konstitutive Merkmal freier Medien. Eine Medienpolitik, die auf demokratiepolitische Ziele ausgerichtet ist, muss dafür Rahmenbedingungen garantieren. Deren Sicherung beginnt bereits bei der sichtbaren Anerkennung des freien Mediensektors in seiner Funktionenvielfalt. Anstelle der verzögernden und verhindernden Auseinandersetzung mit den Visionen eines einzelnen Beamten ließe sich längst kompetent über gesetzliche Verankerung, ressortmäßige Zuordnung, Förderrichtlinien und nicht zuletzt entsprechende Budgets diskutieren. Ein Anfang wäre die ernsthafte Einbeziehung der versammelten freien Medienprojekte in die politische Gestaltung der Wiener Medienlandschaft.

Das Freie Mediencamp richtet sich in erster Linie an die Politik der Stadt Wien – und da keineswegs bloß an die allein regierende SPÖ. Unter den Mitverantwortlichen für den kultur- und medienpolitischen Stillstand sind unbedingt auch die Grünen anzuführen, die – in kuscheliger Umarmung mit der Sozialdemokratie – bei diesem sensiblen Thema von Oppositionspflicht offenbar nichts wissen wollen. Somit bleibt eben das Bekenntnis uneingelöst, bei der Sicherung wichtiger demokratischer Grundlagen unserer Gesellschaft der repressiven Politik der schwarz-blauen Bundesregierung klare Akzente entgegen zu setzen. Ob das Mediencamp auf lange Sicht einen Kurswechsel herbeiführen kann, wird sich in den kommenden Monaten weisen.

Die vergangenen Monate lassen jedenfalls berechtigtes Misstrauen zurück: Die Wiener Stadtpolitik, die neuerdings gerne von Beteiligung, Transparenz und Demokratisierung spricht, meint es in der Praxis nicht ernst, wenn ihre Vorhaben in diesem Kontext zu Vaporware und zu einem Terrain für tagespolitischen Landgewinn verkommen. Niemand wird deshalb wieder auf den Straßen zu Degen und Pistole greifen. Moderne Stadtgesellschaften dürfen jedoch nicht um öffentliche Räume und mediale Austragungsorte für ihre Differenzen betrogen werden.

Den Kultur- und Medieninitiativen ist es mit dem Mediencamp gelungen, kurz entschlossen gemeinsame Sache zu machen und eine konfliktuelle Situation herbei zu führen, die einem weiteren Aufschub von Lösungen und der damit verbundenen Missachtung der Forderung eines ganzen Sektors eine kompromisslose Absage erteilt. Und: Mit der symbolischen Präsenz am Karlsplatz liegt jetzt jedenfalls eine umfassende politische Agenda mit noch mehr Nachdruck auf dem Tisch; an einem Ort, an dem in den nächsten Jahren viele grundlegende Gestaltungsfragen der Stadt, gerade auch im Hinblick auf die Sicherstellung partizipativer Öffentlichkeiten, zur Entscheidung kommen. Jetzt ist es in der Hand der Stadtverantwortlichen: Fakten, Fakten und keine heiße Luft! Davon gab es diesen Sommer ohnehin genug!

Kulturrisse