Unendliche Tiefen

Am Wiener Karlsplatz könnte die Zukunft der Stadt ausgehoben werden

Unlängst war in dieser Zeitung über eine Bürgerinitiative zu lesen, deren VertreterInnen eine kulturelle Erneuerung des Wiener Karlsplatzes fordern. Sie betreten damit, wie Thomas Rottenberg richtig bemerkte, eine seit zehn Jahren bestehende Endlosschleife.

Erstaunlich allerdings, dass der Bürgerinitiative mit ihren verschwommenen Forderungen eine öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird, die sich deutlich sachkundigere Wortmeldungen nur wünschen können. Gefordert wird hier etwa ein “Signal für künstlerische Gestaltungsformen des 21. Jahrhunderts” oder ein “Platz für Offene Kulturen als demokratische Wegbereiter”.

Diese Worthülsen warten nur darauf, von verschiedenen Seiten politisch vereinnahmt zu werden. Das Museumsquartier ist ein eindrucksvolles Beispiel. So unbeholfen die bürgeraktivistische Rhetorik aber auch sein mag – sie bemüht sich um kulturpolitische Perspektiven, die etwa bei der Sozialdemokratie meist schon im Ansatz scheitern. Auch die Grünen verwenden ihre wenigen Ressourcen vermehrt darauf, sich um neoliberale Konzepte wie die Creative Industries zu kümmern. Die wenigen Initiativen, die sich dem ökonomistischen Kulturverständnis widersetzen, werden sukzessive ausgehungert. Jüngstes Beispiel: Das Depot, renommierte Wiener Institution für Kunst und Theorie, steht vor dem endgültigen Aus.

Top-down-Lösung

Der Karlsplatz bietet beste Voraussetzungen für einen Kulturstandort, dessen Zweck nicht die Erhaltung des kulturellen Erbes oder die Stimulierung kultureller Konsumwut ist, sondern eine exemplarische Realisierung von Öffentlichkeit. Weder von Kulturklüngeln noch vom Denkmalschutz eingeschränkt, fasziniert seine urbane Lage wie seine Disparatheit. Jenseits von Slogans wie “Unort” und “Verkehrshölle” hat er das Potenzial zu einem produktiven urbanen Dschungel. Und an konkreten Initiativen, die in der Anfangsphase einen solchen Platz prägen könnten, besteht kein Mangel.

Will man der Obsession vergangener Bürgerinitiativen gegen Lesetürme folgen, kann man den Aktivisten für den Karlsplatz nur nahe legen, mit der gleichen Logik einen spiegelbildlich in die Tiefe gegrabenen Turm einzufordern. Ein solches Bild ist seit den Aushubarbeiten an diesem U-Bahn-Knotenpunkt auch keineswegs verwegen, noch bleibt es rein metaphorisch. Und. Ein Karlsplatz, der den Blick nach vorne nicht scheut, könnte den Motor der ins Stocken geratenen Pläne für ein “ArtScience Center Vienna” obendrein wieder zum Laufen bringen.

Radikal-diskursive Kulturinitiativen, Netzkultur, Medienkunst, Kunsttheorie und experimentelle Überlagerungen von Kunst, Politik und Theorie könnten hier ohne Platzhirschen und Hausmeister einen Ort erneuern, ohne dabei zur Vertreibung der marginalen Gruppen beizutragen, die den Karlsplatz derzeit am stärksten prägen. Eine gemeinsame Ressourcennutzung würde gerade so wenig Koordination wie nötig implizieren, der Top-down-Lösung des Museumsquartiers wäre exemplarisch ein aktivistisches Gegenmodell beigesellt.

Der ganz ohne Kuratel und Führung von Kuratoren belebte, inverse Turm wäre also weniger ein Ort der Kontemplation wie der alte Leseturm noch ein Ort des Spektakels, sondern ein Turm, der sich in die Welt hineinbohrt. Die Wiener Stadtregierung ist ­wieder einmal – aufgerufen, ein sichtbares Zeichen für eine Kulturpolitik zu setzen, die diesen Namen verdient.