Im März 2019 fand im niederösterreichischen Dürnstein wieder ein Symposion statt, das sich in diesem Jahr dem Thema „Demokratie! Zumutung oder Zukunft?” widmete.
In diesem Rahmen konnte ich mit dem renommierten Soziologen und Politikwissenschaftler Colin Crouch ein Interview führen, in dem das Zusammenwirken von Neoliberalismus und Populismus in der Postdemokratie nach der Krise näher erläutert wurde.
Die Übertragung steht im Online-Archiv von DORFTV zur Verfügung.
Das vollständige Interview:
MW: Ich würde gerne mit einer für Sie einfachen Frage beginnen. Was genau meinen Sie mit Postdemokratie?
CC: Mit Postdemokratie meinte ich etwas Ähnliches, als wenn wir unsere Gesellschaft als post-industriell bezeichnen. Wir meinen damit nicht, dass es keine Industrie mehr gibt. Sie ist immer noch da, wir benutzen sie. Aber die Energie der Wirtschaft hat sich in verschiedene Sektoren aufgefächert.
Also ich meinte – in der Postdemokratie sind alle demokratischen Institutionen vorhanden. Wir haben Wahlen, Regierungen stürzen, es gibt freie politische Debatten. Aber ich befürchtete, dass dies seinen Gehalt verlieren würde. Also, dass daraus eine rein formelle Handhabung werden würde. Und die Energie des politischen Systems war am Verschwinden in eine Welt der kleinen politischen und wirtschaftlichen Eliten. Ich sagte nicht, dass wir schon dort wären, sondern, dass wir auf dem Weg dorthin sind, sollten wir nicht vorsichtig genug sein. Und das ist etwas, das den Menschen nicht auffällt, weil diese Institutionen bestehen und aussehen, als ob es ihnen gut gehen würde.
MW: Sie haben ja tatsächlich auch ihr Buch über Postdemokratie in 2003 veröffentlicht. Gibt es heute, eineinhalb Jahrzehnte später, Ihrer Meinung nach die Notwendigkeit, diese Auffassung zu aktualisieren? Wir haben ja wirklich sehr viel viele Krisen auf der Welt erlebt. Inwieweit sollte Ihr Konzept adaptiert werden?
CC: Ja, es gibt definitiv Veränderung. Einige dieser Dinge, die passiert sind, haben meine Ängste bestätigt. Andere wiederum brachten neue Dinge zu verkraften. Die zwei großen finanziellen Krisen, die allgemeine von 2008 und dann die spezielle Euro-Krise von 2010, haben mir gezeigt, dass ich Recht hatte zu sagen, die Politik sei am Verschwinden in kleine Gruppen von politischen und wirtschaftlichen Eliten. Und dass ich sagte, dass der Rest der Bevölkerung nicht wirklich viel zu sagen hätte. Die große Priorität in der Banken-Krise war nämlich, die Banken zu retten – und wir alle mussten Opfer bringen, um diese Banken zu retten. Und das alles ist passiert aufgrund einer Deregulierung des Bankensystems. Und dies selbst war das Produkt von Zusammentreffen kleiner politischer und wirtschaftlicher Eliten – ohne den Rest der Bevölkerung mit einzubeziehen. Ich würde sagen, dass die finanzielle Krise, die Euro-Krise, gut aufgezeigt hat, wie die Postdemokratie in Aktion aussieht. Speziell wie die griechischen und italienischen Parlamente gezwungen waren, bestimmte Regelungen zu akzeptieren, die von der sogenannten Troika diktiert wurden. Es war notwendig, dass diese von Parlamenten legitimiert wurden, jedoch hatten diese Parlamente nichts zu sagen. Das war reine Postdemokratie.
MW: In Ihrer Rede heute haben Sie zwei maßgeblich treibende Kräfte aufgezeigt, die sich in unserer Realität von Postdemokratie finden – nämlich Neoliberalismus und Populismus. Und Sie erwähnten auch – so nannten Sie es – “eine schmutzige Koalition” dieser beiden Kräfte. Was genau können wir uns unter dieser “schmutzigen Koalition” vorstellen?
CC: Zuerst einmal müssen wir die Rolle des Populismus in Zusammenhang mit diesem Prozess verstehen. Ich erwähnte den xenophoben Populismus als, neben Umweltbewegung und Feminismus, eine der drei Bewegungen, die demonstriert haben, dass wir (noch) nicht in der Postdemokratie leben. Dass es eben noch eine gewisse Aufgewecktheit da draußen gibt. Der Populismus, speziell der xenophobe Populismus, ist von allen drei der wichtigste geworden. Und damit treten Fragen auf, auf die ich in “Postdemokratie” noch nicht richtig eingegangen bin. Denn die Populisten verlangen Zutritt zum politischen System. In einer funktionierenden Demokratie hat das auch zu geschehen. Das Problem ist jedoch, was passiert, wenn sie denn nun in diesem System sind? Benehmen sie sich dann auf eine zivilisierte Weise? Oder benehmen sie sich nach wie vor wie grobe Außenseiter? Sagen sie, wir akzeptieren nicht die Urteile von nicht gewählten Richtern? Wir akzeptieren nicht, dass Parlamente eine Rolle spielen sollten? Unsere eigene Bewegung sollte dominieren? Wenn sie dann damit anfangen – speziell wenn sie die Rolle der Gerichtshöfe anzufechten beginnen -, dann sollten die Alarmglocken läuten. Denn genau zu dem Zeitpunkt wurde aus einem Ausdruck für Demokratie eine Bedrohung. Und was ich selbst nicht richtig einzuschätzen wusste, als ich mein Buch schrieb, war die Tatsache, dass die Demokratie zu ihrer eigenen Sicherheit gewisse Restriktionen für sich selbst braucht. Speziell die politische Führung muss in Schach gehalten werden. Sie sagt, sie wäre Ausdruck des Willens der Leute, aber sie eifert nach Macht für sich selbst. Und daher brauchen wir die Gerichtshöfe, die Verfassung, den Rechtsstaat, um uns von ihnen zu retten. Also, das ist die erste Frage, die beantwortet werden muss. Neoliberalismus und Populismus wirken auf den ersten Blick sehr gegensätzlich zueinander. Neoliberalen jedoch gefällt die Postdemokratie, denn sie wollen ein System mit sicheren Regeln, sie wollen einen Rechtsstaat, aber sie wollen keine populären Aktivitäten. Populisten sind das genaue Gegenteil. Außerdem wollen Neoliberale eine freie globale Wirtschaft. Sie wollen nicht, dass die Politik hier dazwischen funkt. Wohingegen jedoch die Populisten, linke oder rechte, diese Regulierungen der Wirtschaft wollen. Die Koalition zwischen den beiden, also zwischen den Neoliberalen und Populisten, ist folgende: Die Populisten sagen, wir wollen keine Politik über der Ebene des Nationalstaates. Wir lehnen die Europäische Union ab. Wir lehnen internationale Regeln ab. Wir wollen, dass Politik nur zuhause gemacht wird. Die Neoliberalen sagen, ja, das ist in Ordnung. Ihr könnt das machen, denn wir wissen ja, dass ihr, um Kontrolle über die Wirtschaft zu haben, die Kooperation zwischen den Ländern braucht. Wenn ihr die Kooperation zwischen Ländern nicht wollt, dann ist uns das ganz recht, denn wir können dann einfach weiter die finanzielle Welt regieren und ihr könnt eure Nationalflaggen schwenken und glauben, ihr hättet Souveränität.
MW: Das überraschende Wahlergebnis für Donald Trump als neuer Präsident der USA und auch die Abstimmung für den Brexit können als starker Ausdruck von Menschen angesehen werden, die über die Globalisierung sehr verärgert sind. Denken Sie, es gäbe da irgendwelche positive Alternativen jenseits der Dämonisierung der Globalisierung?
CC: Naja, es ist schon interessant, dass sowohl Donald Trump als auch der Brexit völlig doppelbödig mit der Globalisierung umgehen. Trump will alt eingesessene Erzeugungsindustrien und die Kohleminen schützen. Aber er möchte weiterhin ein dereguliertes globales Finanzsystem. Der Brexit appelliert an die Ängste der Menschen gegenüber der Globalisierung, aber dennoch ist das Motto der Regierung ein globales Großbritannien. Und die Hauptvertreter des Brexits wollen, dass Großbritannien eine deregulierte Wirtschaft wird, die für den globalen Wettbewerb offen ist. Also mehr Globalisierung, und nicht weniger. Sie wollen sich Europas Schutz vor der Globalisierung entziehen. Es gibt eine starke Zweideutigkeit – man könnte es wahrscheinlich auch als Heuchelei bezeichnen – bei Trump sowie auch beim Brexit.
MW: Sie sprachen in Ihrer Rede über eine lebhafte Demokratie, die, so habe ich das verstanden, dazu verpflichtet ist, Störungen zu akzeptieren. Was meinen Sie damit?
CC: Nun ja, diese speziellen Parteien, die wir haben, besitzen kein Recht auf ewiges Leben. Die können nicht damit rechnen, auf Ewigkeit zu dominieren. Wir müssen erwarten, dass neue Bewegungen entstehen. Es ist ein Zeichen einer gesunden Demokratie, wenn Veränderungen in der Gesellschaft zu Veränderungen in den Parteien führen. Also zum Beispiel die Entstehung der grünen Parteien. Die Probleme der Umwelt wurden vor 40 Jahren einfach nicht diskutiert. Wir wussten nicht, dass wir Probleme haben. Jetzt wissen wir, dass wir Probleme haben. Es ist gut, dass es Parteien gibt, die das zum Ausdruck bringen.
MW: Während der Wirtschafts- und Finanzkrise haben wir oft gehört, dass vor allem Banken zu wichtig und zu groß seien, um zu scheitern. Würden Sie zustimmen, dieses Motto in einem anderen Sinne anzuwenden: Ist die Demokratie zu groß zum Scheitern?
CC: Zu groß zum Scheitern ist ein Problem, wenn man ein Akteur in der Marktwirtschaft ist. Denn in einer richtigen Marktwirtschaft gibt es sowas wie “Zu groß zum Scheitern” nicht. Der Markt kann nur funktionieren, wenn individuelle Firmen zusammenstürzen und verschwinden können, ohne dabei das gesamte System zu stören. Also, die Aussage, dass Banken zu groß zum Scheitern wären, war eigentlich ein Warnsignal, dass die Marktwirtschaft nicht richtig funktionierte. Und es ist wahrscheinlich unmöglich, dass es im Finanzsektor nur reinen Wettbewerb gibt. Es braucht Regulierungen für einen sehr limitierten Wettbewerb. Demokratie jedoch befindet sich nicht in der Marktwirtschaft. Sie befindet sich außerhalb in einer anderen Welt. Also ist die Antwort eine andere Art von Antwort. Wir wissen, dass sie scheitern kann. Wir wissen, dass sie schon einmal gescheitert ist. Die Frage jedoch ist, ob sie in Gesellschaften scheitern kann, wo sie schon sehr gut etabliert ist? Denn als sie in den 1920er und 1930er Jahren scheiterte, war sie noch ein Baby. Sie war winzig und jung. Sie war nicht akzeptiert. Heutzutage, würde ich jetzt mal sagen, ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, dass die Bevölkerung der sogenannten westlichen Welt es akzeptieren würde, kein Wahlrecht mehr zu haben. Und ich denke, die Frage ist auch, ob dies nicht ebenfalls auf Osteuropa zutrifft. Meine Vermutung ist, dass dies der Fall ist. Meine Vermutung ist, sollten sie in Ungarn und Polen sagen, wir brauchen die Wahlen nicht mehr, dann gäbe es massenweise Demonstrationen in den Straßen. Also, wenn die Demokratie schon mal da ist, auch wenn die Leute zynisch werden, genug von individuellen Parteien haben, dann wären sie trotzdem immer noch sehr beunruhigt, sollte sie ihnen weggenommen werden.
MW: Und nun eine letzte Frage: In ein paar Tagen, wohlgemerkt, wird Großbritannien die Europäische Union verlassen. Lassen Sie uns doch dahinter blicken, aus Ihrer Sicht der Dinge. Was wird den europäischen Gesellschaften und der europäischen Demokratie passieren?
CC: Nun ja, im Moment haben wir noch wirklich keine Ahnung, was mit unserem Land passieren wird. Es sieht so aus, als ob wir nicht vorwärts oder rückwärts gehen können, aber wir können auch nicht stillstehen. Aber irgendetwas muss uns passieren. Ich selbst hoffe immer noch, dass wir dies nicht tun werden, irgendwie. Denn meiner Meinung nach muss die Demokratie auch über die Grenzen des Nationalstaates hinaus reichen. Für mich ist die Europäische Union, obwohl sie eine defekte Demokratie verkörpert, das einzige Beispiel auf Erden für ein transnationales Parlament. Das einzige Beispiel auf der Welt, wo Interessensgruppen, Gewerkschaften, Unternehmensgruppen und Kirchen Zugang zu einer internationalen Organisation haben, die zu ihnen spricht und mit ihnen diskutiert. Die Europäische Union ist ein so wertvoller Erfolg. Und ich bin sehr angeekelt, dass mein eigenes Land das erste ist, das ihr den Rücken kehren will. Aber was tatsächlich passieren wird, ist jedoch unvorhersehbar.
MW: Jedenfalls herzlichen Dank für das Interview. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Dankeschön.