Demokratie. Vorbehalte gegen wahlkabine.at hatten fast alle Parteien. Sie könnten es künftig vermissen.
Der Spätsommer 2002 war ein guter Zeitpunkt für die Politische Bildung in Österreich. Am 7. September führte in Knittelfeld ein außerordentlicher Parteitag zur Spaltung der FPÖ und in Folge zu einer vorgezogenen Nationalratswahl. Wenige Tage zuvor präsentierte Harald Schmidt in seiner Late-Night-Show den Wahl-O-Mat und sorgte damit vor Millionenpublikum für Furore. Die Begeisterung für „Voting Indicator Tools“, so die Bezeichnung der Online-Orientierungshilfen in Fachkreisen, erreichte sehr schnell Österreich – und legte den Grundstein für die rot-weiß-rote Variante mit dem Namen wahlkabine.at für den Urnengang am 24. November. Das Prinzip blieb bis zuletzt spielerisch einfach: Die Antworten auf 25 Fragen und deren Gewichtung berechnet der Algorithmus zu einem Ergebnis, das im Verhältnis zum Parteienspektrum die persönliche Übereinstimmung und Distanz sichtbar macht.
21 Jahre später ist die Internet-Wahlkabine unbestritten auch weiterhin ein beliebtes und erfolgreiches Instrument, um Menschen über parteipolitische Positionen zu informieren, programmatische Differenzen aufzuzeigen und schließlich das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie zu stärken. Die Politik muss mittlerweile zur Kenntnis nehmen, dass die Digitalisierung die Gewissheiten der Macht und eines passiven Wahlvolkes tiefgreifend in Frage gestellt hat. Aber anstatt die demokratiepolitischen Potenziale der neuen Medien für sich selbst zu nutzen, reagierten die Parteisekretariate, die sich für die Datengrundlagen von wahlkabine.at in der Regel zu 40 ausgewählten Themenbereichen den Kopf zerbrechen mussten, fast ausnahmslos mit Argwohn, Kopfschütteln und Widerwillen. Da kam es in den Anfängen schon einmal vor, dass der sozialdemokratische Klubobmann Josef Cap zum Telefon griff, um für den Besuch eines TV-Teams auf Nummer sicher zu gehen: „Was muss ich eingeben, dass bei mir auch wirklich SPÖ rauskommt?“ Bei der OÖ. Landtagswahl 2003 erklärte der Pressesprecher der Grünen: „Bei so einem Blödsinn machen wir nicht mit!“ In Niederösterreich hingegen ging die ÖVP gleich mit rechtlichen Schritten vor, um eine Nennung bei der in blau-gelben Farben gehaltenen Ausgabe 2008 zu verhindern. Was dabei übersehen wurde: wahlkabine.at basierte stets auf einer unabhängigen Redaktion, an der sich namhafte Zeitungen (u.a. “Die Presse”) sowie zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligten. Die Volkspartei hätte sich die Rechtsanwaltskosten sparen können.
Irgendwann geht die Luft aus
Andere wiederum witterten angesichts der enormen Zugriffe und des medialen Hypes um die niederschwellige Hilfestellung zur Wahlentscheidung das ganz große Geschäft. Nutzungsdaten sind seit jeher für eine kommerzielle Verwertung in hohem Maße einträglich, da ließen Politikberatungsfirmen und Marketingunternehmen mit verlockenden Angeboten nicht lange auf sich warten. Die Profitabsichten scheiterten aber stets sehr schnell am Institut für Neue Kulturtechnologien, des im stillen Hintergrund agierenden Trägers von wahlkabine.at, das sich seit den 1990er Jahren mit Pioniergeist und großer Sachkenntnis mit den kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Implikationen der Digitalisierung auseinandersetzt. Der Schutz der Privatsphäre ist dabei unverändert oberste Maxime. Das Festhalten an diesem Grundsatz hat in der Öffentlichkeit nicht unwesentlich zu einem kritischen Bewusstsein gegenüber der Allgegenwart des Digitalen beigetragen, die wenigen staatlichen Förderinstanzen runzelten aber in Anbetracht der unentwegt prekären Ausgangsbedingungen mitunter verständnislos die Stirn.
Nun droht das jähe Ende. Jahrelange Finanzierungsnöte, kaum noch Ressourcen, da geht die Luft irgendwann mal aus. Die Verantwortlichen haben bereits vor zehn Jahren ernsthaft in Erwägung gezogen, wahlkabine.at dem Demokratiezentrum des österreichischen Parlaments zum Nulltarif zu überlassen. Dieses Angebot stieß bei Nationalratspräsidentin Barbara Prammer auf Ablehnung, die Vorbehalte der SPÖ erwiesen sich eben als hartnäckig und von langer Dauer. Dass das Projekt bereits 2008 als Best-Practice-Beispiel des Europäischen Netzwerks der Politischen Bildung im EU-Parlament präsentiert worden war, konnte schließlich auch nicht überzeugen.
Mit dem endgültigen Aus von wahlkabine.at wird dem Parteiensystem kurz vor dem Superwahljahr 2024 eine wichtige Interaktionsschnittstelle abhandenkommen, um in schwierigen Zeiten mit den Menschen, gleich welchen Alters und welcher sozialen Zugehörigkeit, in Kommunikation zu treten. Mit der Wahlrechtsänderung 2007 und der Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre hat Österreich einen wichtigen Schritt gesetzt, die politische Beteiligung von Jugendlichen ernst zu nehmen und ihnen ein Mitbestimmungsrecht einzuräumen.
Die Jungen konnten vertrauen
Woher aber haben junge Menschen die erforderliche Kenntnis von Parteien und dem Spektrum unterschiedlicher Entwürfe für ihre Zukunft? Wahlkabine.at konnten sie vertrauen, weil sie sich in der digitalen Sphäre auch bei der Herausbildung der eigenen politischen Ansichten abseits von Desinformation und Fake News redaktionell gut aufgehoben fühlen durften. Der Verlust ist sicherlich nicht so rasch auszugleichen – den Schaden dieser Entblößung hat aber vor allem eine von multiplen Krisen gebeutelte Demokratie.
Martin Wassermair war von 2002 bis 2015 Projektleiter von wahlkabine.at und leitet aktuell die Politikredaktion von DORFTV.