Die große Naturschutz-Lüge

Klima und neue Ungerechtigkeiten

Im März 2022 fand im niederösterreichischen Dürnstein wieder ein Symposion statt, das sich in diesem Jahr dem Thema „Klima“ als Seismograph für Natur und Gesellschaft widmete.

In diesem Zusammenhang sollte auch zur Sprache kommen, dass Klimapolitiken der mächtigen Industriestaaten zu neuen Ungerechtigkeiten im globalen Süden führen – ein Thema, das in der öffentlichen Debatte kaum Beachtung findet und auch die Konventionen vieler NGOs grundlegend in Frage stellt.

Das Interview mit dem kenianischen Ökologen Mordecai Ogada, der mit seinem Buch “Die große Naturschutz-Lüge” für großes Aufsehen gesorgt hat, fand im Rahmen des Symposion Dürnstein 2022 statt. Ihm zufolge verbreiten internationale Medien seit langem die Unwahrheit, dass für die Gefährdung der afrikanischen Tier- und Pflanzenwelt die schwarze Bevölkerung verantwortlich zu machen sei. Er fordert mehr kritisches Bewusstsein, um den Klimaschutz von derart rassistischen Narrativen fernzuhalten.

Die Übertragung steht im Online-Archiv von DORFTV zur Verfügung.

Das vollständige Interview:

MW: In Ihrem Vortrag haben Sie deutlich gemacht, dass Umwelt- und Klimapolitiken zu Instrumenten einer neuen Ungerechtigkeit im globalen Süden geworden sind. Was genau meinen Sie damit?

MO: Wir haben aktuell eine weltweite Klimakrise. Wir sind alle bemüht, den Klimawandel abzuschwächen und zu stoppen. Das hat aber auch Ungerechtigkeiten verursacht, wie zum Beispiel in Kenia durch die Kohlenstoffbindung. Sie finden deswegen abgezäunte Wälder, die von den lokalen Gemeinschaften seit Jahrhunderten nachhaltig genutzt wurden. Wir müssen daher näher untersuchen, was wir bei der Eindämmung des Klimawandels in naturbelassenen Umgebungen genau tun. In den afrikanischen Landschaften haben immer Menschen gelebt. Aber angesichts von Kohlenstoffbindung und CO2-Emmissionshandel wird dem Anschein nach zunehmend gefordert, dass keine Menschen mehr in den Wäldern sein sollten. Die Umweltschutzbewegung hat vergessen, dass die gesamte Biodiversität in Afrika seit Jahrtausenden mit Menschen zusammenlebte, also seit dem Ursprung der Menschheit. Deshalb kann man nicht jetzt damit beginnen, die beiden zu trennen ohne ernsthafte Menschenrechtsverletzungen. Dazu gehören Zäune, bewaffnete Patrouillen, Umsiedelungen von Communities sowie außergerichtliche Tötungen. Bei aller Sorge um das Klima, das kann nicht gutgeheißen werden.

MW: Sie haben vor kurzem ein Buch veröffentlicht unter dem Titel “Die große Naturschutz-Lüge”. Inwiefern sind wir bei diesem Thema mit der Unwahrheit konfrontiert?

MO: Das Hauptnarrativ, das als Unwahrheit international durch die Medien geht, ist, dass Afrikas Tier- und Pflanzenwelt in Gefahr sei – und die Ursache dafür die schwarze Bevölkerung. Dieses Narrativ taucht immer wieder auf. Wenn Sie zum Beispiel Wildlife-Dokumentationen sehen, etwa auf dem National-Geographic-Kanal oder in David Attenboroughs Dokumentationen, da werden schöne Landschaften gezeigt, aber sie zeigen keine schwarzen Menschen. David Attenborough erzählt keine Lüge, aber er lässt die Kamera für ihn lügen. Wenn das jemand in Österreich sieht, dass es in den Lebensräumen der Elefanten keinen Menschen gibt, weil Elefanten nur im TV gesehen werden. Und wenn tatsächlich jemand nach Afrika kommt und sieht, dass wir sehr wohl die Lebensräume mit der Tierwelt teilen, dann beginnt das Unrecht, indem die Menschen verdrängt werden sollen, um für die Tierwelt Platz zu schaffen. Die Tierwelt gab es aber immer gemeinsam mit Menschen. Das wird sehr stark von der Tourismusindustrie vorangetrieben, weil sie auch das Image Afrikas verkauft, diese schönen Bilder mit einer schönen Tierwelt und Wildheit, in der keine Menschen sind. Das ist aber eben nicht wahr.

MW: Wer sollte Ihrer Meinung nach verantwortlich gemacht werden für diese fast ewig andauernden kolonialen Narrative?

MO: Ich denke, das ist eines der menschlichen Übel. Verantwortlich sind Leute wie Theodor Roosevelt. Der frühere US-Präsident kam zum Jagen nach Afrika, konkret war das in Kenia, in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts. Daraufhin veröffentlichte er all diese Bilder von der schönen Tierwelt und den Landschaften. Die einzigen schwarzen Menschen waren die Träger, die das Equipment transportierten. Diese Bilder bleiben natürlich hängen, aufgrund der Bekanntheit dieser Person. Aber auch in der Kunst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschien das Buch “Tarzan” von Edgar Rice Burroughs. Darin wird das Bild eines noblen weißen Mannes geschaffen, der in Afrika gestrandet ist und dann mit Tieren lebt – bei gleichzeitig totaler Abwesenheit von schwarzen Menschen. Das bleibt in unseren Vorstellungen hängen, denn das sind sehr starke Figuren und Narrative zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das führt schließlich zu den Kolonialisten, die in Afrika Abenteuer, Land und Ressourcen suchten. All diese Narrative von natürlichen Ressourcen haben immer schwarze Menschen ausgeschlossen. Viele andere Bereiche wie das Bankwesen, Business und Bildung haben sich seit der Unabhängigkeit verändert. Aber in einer Zeitschleife von einhundert Jahren haben Bücher, Filme und Dokumentationen diese Images konserviert. Es gibt also keinen Unterschied im Film “Born free” von 1969. Und auch Tierwelt-Dokumentationen von heute zeigen keine schwarzen Menschen als intellektuelle Beteiligte. Deshalb müssen wir diese Narrative ändern – die Medien spielen dabei eine wichtige Rolle.

MW: In welchem Sinne genau? Wir sind hier als kleiner TV-Sender. Was genau können wir tun, um Öffentlichkeiten zu erreichen, sie zu informieren und um Bewusstsein zu schaffen?

MO: Am besten ist es aufzuzeigen, wie die Schönheit der Tierwelt in den Hintergrund treten kann und wie man wirklich verantwortlich sein muss. Wo Elefanten sind, sind auch Menschen – und diese haben ein natürliches Talent, in der Tierwelt zu leben. Wenn gar Löwen mit Menschen leben, sollten wir das den Menschen hoch anerkennen. Man stelle sich vor, die leben ganz nahe mit Löwen und töten sie nicht. Somit überleben einige Löwen – das muss man im Bild behalten. Zudem sind die Bewegungsräume zu erweitern. Und gerade im Hinblick auf den Afrikatourismus ist zu sagen: Geht nach Kenia in das Naturschutzgebiet Masai-Mara, um mit den Masai dort zu sprechen. Sie sind ganz erstaunlich und leben mit der gesamten Tierwelt zusammen. Bezüglich Löwen gibt es keinen besonderen Zauber, es wird zauberhaft, wenn jemand mit Löwen lebt und unter ihnen aufwächst. Also verändert den Fokus, denn es handelt sich um das Gleiche, verändert den Fokus des Narrativs. Die Diversität Afrikas wird in erster Linie durch die Menschen deutlich. Ein Löwe in Südafrika ist der gleiche wie in Kenia, Botswana, Somalia, wo auch immer. Es ist das gleiche Tier. Wenn wir daher über Afrika sprechen, dann sprechen wir über Menschen, auch im Kontext von unterschiedlicher Naturlandschaften. Da müssen wir auch dem Publikum in Europa die Augen öffnen. Denn was wird jetzt gezeigt? Wenn jemand von hier kommt, der zuvor National Geographic im TV gesehen hat, fühlt sich schockiert oder gar enttäuscht, weil im wunderbaren  Masai-Mara so viele Menschen leben. Also wenn Sie nach Masai-Mara reisen, erwarten Sie dort auch Masai-Menschen! Wenn Sie in den Samburu-Nationalreservat in Nordkenia reisen, erwarten Sie dort Samburu- und Masai-Menschen! Das erweitert das Denken. Niemand geht nach Indien und würde sagen, da sind zu viele Inderinnen und Inder. Oder nach China, um zu sagen, da sind zu viele Chinesinnen und Chinesen. Also sollte niemand nach Afrika kommen und sagen, da gibt es zu viele afrikanische Menschen. Lasst uns diese Menschen normalisieren als Teil der Diskussion, dann können wir die lokalen indigenen Völker ermutigen, für dieses Erbe zu sorgen. Wenn wir ihnen eines Tages einen Salut geben, es intakt zu halten, denn so viele Tier wurden bereits ausgerottet, aber sehr viele Arten in Afrika überleben weiterhin – das aber dank der Menschen und nicht aufgrund von Umweltschutzorganisationen.

MW: Nun möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Frage lenken: Wer spricht? Wer diskutiert? Wer nimmt teil, um Lösungen zu finden? In den vergangenen Jahren habe ich selbst viele Podiumsdiskussionen zur Klimakrise erlebt – fast alle mit weißen Menschen aus dem globalen Norden. Damit stehen wir nun vor einem großen Problem, weil sehr viele Menschen von den Konsequenzen und Auswirkungen der Klimakrise bereits seit Jahrzehnten betroffen sind, nicht aber involviert in den wichtigen Diskussionen dieser Welt. Welche Erfahrung machen Sie dabei?

MO: Das ist eine sehr wichtige Frage, doch die jahrhundertealten Narrative finden noch heute statt. Und die größten globalen Umweltschutzorganisationen sind in Ländern angesiedelt, wo es keine vergleichbare Tierwelt gibt. Der WWF (World Wide Fund For Nature) hat sein Hauptquartier in der Schweiz, die WCS (Wildlife Conservation Society) in New York. Sie alle sprechen über Afrika, für sie ist es ein großes Business geworden. Deshalb verwenden sie Krisen-Narrative wie: Elefanten werden bis 2025 ausgerottet – also gebt uns Geld, um die Elefanten zu retten! Es ist ein Business geworden. Und es gibt Spenderinnen und Spender, die geben nur 50 oder 100 Euro, weil sie die Tierwelt lieben – und glauben, dass diese Leute den richtigen Job machen. Doch wir leben mittlerweile im Informationszeitalter, man findet Informationen über Löwen, ohne die WWF-Website besuchen zu müssen. Die Leute müssen diesen Schritt eben machen, müssen Verbindungen herstellen. Oder ein Flugzeug nehmen, nach Kenia, um sich das selbst anzusehen. Das wäre ein wünschenswerter Tourismus, dass Leute selber kommen, sehen und lernen. Nicht Leute, die das im Film gesehen haben. Das ist nur ein Film bzw. eine Dokumentation. Kommen Sie und sehen Sie die Wirklichkeit, denn diese ist meist viel schöner. Das Leben der Menschen mit der Tierwelt ist wirklich schön anzusehen. Und das könnte das Narrativ beenden, dass nur weiße Menschen aus dem globalen Norden darüber reden. Im Hinblick auf den Klimawandel sind CO2-Zertifikate die falschen Instrumente. Ich beschäftige mich seit mehr als sechs Jahren damit. Der Handel mit CO2-Zertifikaten ist ein falsches Narrativ, weil es kapitalistisch ist. Und der Kapitalismus ist der Grund, warum wir die Klimakrise überhaupt haben. Kapitalismus und Konsum sind die Schablonen. Wir können also nicht erwarten, dass uns der Kapitalismus von diesem Problem befreit. Der Kapitalismus ist das Problem. Lasst uns doch die Lösungen lokalisieren, wir sprechen so gerne über globale Lösungen. Wenn jemand die Umwelt in Österreich zerstört, muss das auch in Österreich wieder behoben werden. Man kann dann nicht in Kenia Bäume pflanzen, um ein in Österreich verursachtes Problem zu lösen. Aber das ist genau, was derzeit mit den CO2-Zertifikaten passiert. Jemand fliegt drei Mal pro Woche über den Atlantik, ist aber glücklich, weil mit jedem Flug auch Geld zum Pflanzen von Bäumen fließt. Das ist interessant, denn Kapitalismus verfolgt keine Langzeitpläne, es geht um den Profit jetzt. Da bewegt sich viel Geld rund um die Welt, ohne irgendwelche Güter oder Dienstleistungen zu erwerben, das sind CO2-Zertifikate. Das Geld wird in Industrien und Aktienmärkte investiert – und damit wieder in Umweltzerstörung, Menschrechtsverletzungen und korrupte Regierungen. Lass uns doch besser mit realen Dingen handeln, nicht mit solchen Geschichten wie jene der CO2-Zertifikate.

MW: Abschließend noch eine Frage, um uns Hoffnung zu geben. Was sind ihre Ideen, um es besser zu machen?

MO: Es wird allmählich besser, wenn man etwa auf Symposien wie das hier in Dürnstein schaut. Wir haben Philosophinnen und Philosophen sowie Anthropologinnen und Anthropologen, die zusammenkommen und miteinander reden. Das ist sehr wichtig, denn die Ethik entstammt der Philosophie – und nicht den Daten. Wenn wir eine richtige Philosophie schaffen, dann bekommen wir auch die richtige Ethik. Wenn wir den Anthropologinnen und Anthropologen antworten, dann bekommen wir auch die menschlichen Dimensionen hin. Das ist sehr ermutigend. Wir leben im Informationszeitalter, mit Social Media. Ich weiß, dass über Social Media viel Falsches zum Ausdruck kommt, aber wir können damit auch die Wahrheit verifizieren. Wenn jemand erzählt, dass es in Kenia nur mehr 15 Löwen gibt, so können Sie im Internet sehr schnell rausfinden, dass dies ein Lüge ist. Viele Menschen nützen Social-Media, um bestehende Narrative herauszufordern. Wir müssen den Umweltschutz demokratisieren, den akademischen Raum. In diese Richtung bewegt sich sehr viel. Junge Menschen, sei es in Europa, den USA oder in Afrika, teilen die Wahrheit auf sehr schnellem Wege, ohne auf jene Rücksicht zu nehmen, die älter und in Senior-Positionen sind. Sie sind das Problem, das es zu verhindern gilt – und das ist doch eine gute Sache.