Die tageszeitung versuchte sich am 20. August 2005 an einem politischen Portrait der ÖVP und stützte sich dabei in erster Linie auf meine diesbezüglichen Veröffentlichungen.
Mythos Werte
Lobby für Bauern und Bürgermeister
Aus Wien Ralf Leonhard
Den Granden der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) würde es niemals einfallen, ihre Gesinnungsgemeinschaft als rechts zu bezeichnen. Nach eigenem Verständnis steht sie in der Mitte: ein solider, moderater Block zwischen den gewerkschaftshörigen Sozialdemokraten und der polternd rechten FPÖ.
Tatsächlich jedoch ist die ideologische Ausrichtung der ÖVP schwer zu definieren, ist sie doch eine Klientelpartei. Sie besteht aus sechs Bünden, von denen der Bauernbund und der Wirtschaftsbund die wichtigsten und mächtigsten sind. Deswegen vertritt die ÖVP im Zweifel die Interessen der Landwirte und der Wirtschaftstreibenden.
Außerdem steht die ÖVP für die von den Kirche hochgehaltenen Werte und gilt als die Partei der Bürgermeister. Die Mehrheit der 1.700 Ortskaiser leiten jedoch Gemeinden auf dem Land. "Die Volkspartei", schreibt Günter Burkert-Dottolo, Leiter eines Thinktanks der ÖVP, "ist als Bürgermeister- und Europapartei in besonderem Maße prädestiniert, Heimatpartei zu sein. Der als Bedrohung und Entwurzelung erlebten Globalisierung kann nur mit Regionalisierung und Heimatorientierung geantwortet werden."
Obwohl in Österreich im Vergleich zu Deutschland ein viel größerer Bevölkerungsteil auf dem Land lebt, ist das keine Garantie für den Machterhalt der Konservativen. "Beschränkt sich die Christdemokratie auf eine selbstgenügsame Politik, die einen ländlichen Lebensstil als einzig selig machende Lebensweise bevorzugt", so eine für die Parteiakademie erstellte Analyse, "wird ihr wahlarithmetischer Spielraum in Bälde zu klein sein, um weiterhin eine große Partei mit Regierungsverantwortung zu bleiben."
Durch ihre Allianz mit der Haider-Partei FPÖ ist die ÖVP "eindeutig nach rechts gewandert", urteilt Heinrich Neisser, ehemaliger Nationalratspräsident der ÖVP. Die ÖVP stehe für ein extrem traditionelles Gesellschaftsbild, was vor allem Frauen und Homosexuelle zu spüren bekommen. Auch wirtschaftspolitisch sei sie von der um Ausgleich bemühten sozialen Marktwirtschaft abgekommen und pflege die Privatisierungsideologie. Die Budgetpolitik, so der Historiker Martin Wassermair, "zielt ausschließlich darauf ab, von einer sozial gerechten Abgabenpolitik abzukehren". Davon nachteilig betroffen sind vor allem Frauen sowie die öffentlichen Leistungen. Dem gegenüber steigt die Zahl folkloristischer Darbietungen von Politikern, die sich vergnügt in Weingärten tummeln.