2017 wurde ich vom Branchenmagazin Der Österreichische Journalist zum Oberösterreich-Journalisten des Jahres 2017 gewählt. Anlässlich dieser Auszeichnung veröffentlichte es in der Ausgabe 02-03/2018 ein von Heidi Vitez verfasstes Portrait.
Der Stachel im Fleisch
Martin Wassermair von Dorf TV ist Oberösterreichs “Journalist des Jahres” und sagt von sich selbst, dass er gar kein Journalist ist.
Vier Herren und eine Dame sitzen an Tischen im Großraumbüro von Dorf TV, schauen kurz auf und gleich wieder gebannt auf ihre Laptops. Kein Martin Wassermair zu sehen. Bis einer aufschaut, winkt, die Brille aufsetzt. Wiedererkannt – gefunden. Kragenloser Pulli, Sakko und Hose in Tarngrau – das ist normalerweise sein Stil. Klare Linien prägen auch die Art seiner Fragen beim TV-Format “Stachel im Fleisch”. Bis Ende 2015 war der Linzer in der oö. Medienszene ein unbeschriebenes Blatt. Da begann er alle zwei Wochen mit dem Format “Stachel im Fleisch”. Journalist – nein, das ist er ja eigentlich nicht, der Lokaljournalist des Jahres. Meint er über sich. “Nach gängigen Kriterien wie Ausbildung, jahrelange Erfahrung in einem Medienbetrieb, journalistisches Handwerk und Recherchen – trifft das alles auf mich nicht zu”, sagt Wassermair, bei Dorf TV Leiter der Politikredaktion.
“Gehen wir rüber zum Tisch, wo wir die Diskussion aufnehmen”, sagt Wassermair und deutet ans andere Ende des Raums. Er nimmt Platz, wo sonst seine Gesprächspartner sitzen: auf einem der beiden grünen Stühle mit Armlehne, Stil 70er-Jahre. Der dritte Sessel mit rotem Sitzbezug ist sonst ihm vorbehalten. Das Rundum ist alles andere als stylisch und wird auch bei den Übertragungen nicht aufgehübscht: viel Kabel, nüchterne Technik und ein Bildschirm auf dem 24 Stunden am Tag Dorf TV läuft. Zurück zur Bezeichnung Journalist. “Ich fühle mich damit nicht ganz glücklich”, so Wassermair. “Ich sehe für mich eigentlich andere Zuschreibungen. Am ehesten kann man noch sagen, dass ich mich seit meiner Kindheit total für Politik begeistere. Ich habe mir schon mit zehn, zwölf Jahren, zum Erstaunen meiner Eltern, langatmige Bundestagsdebatten im deutschen Fernsehen angesehen. Mich hat fasziniert, wie sie gesprochen haben. Das waren damals ausschließlich Männer.”
Und er hat immer ein wenig aufgeschaut zu seinem Vater, damals VP-Kommunalpolitiker in Grieskirchen. Das habe ihn in der Pubertät geprägt – auch in der Opposition zu ihm. Schon damals hat er sich in der Kultur engagiert – beim Verein Rossmarkt. Dort wurde nicht nur alternative Musik angeboten, sondern auch politisch viel diskutiert. “Ich bin in die Jugend-Kulturarbeit eingestiegen, da war gerade Waldheim das heiße Thema”, erzählt Wassermair, der sich selbst eher im links-liberalen Spektrum sieht. Von einseitiger Verbissenheit hält er nichts, dafür sei er, Jahrgang 71, auch schon zu alt. Und fügt hinzu: “Wenn du jung bist, bist du schnell einmal ein Eiferer. Da kann es sein, dass der eigene Elan mit einem durchgeht.” Er habe immer das Glück gehabt, viele kluge Köpfe um sich zu haben, die ihm Feedback gegeben und ihn eingebremst haben. “Ich habe Politik und Geschichte studiert, ich war immer politisch tätig – in der Kulturpolitik, in der Interessensvertretung.” Politik ist der rote Faden in seinem Leben.
Alles hat seine Ordnung bei “Der Stachel im Fleisch”, das Politik-Format, mit dem sich Wassermair als profunder Interviewer einen Namen gemacht hat. Wobei, das wäre ebenfalls eine falsche Bezeichnung. Er nennt es Gespräche. Hier reden berühmte und auch weniger bekannte Menschen aus Politik und Gesellschaft sowie Presseleute über Dinge, die beschäftigen. Und das in einer Weise, in der sie sonst offensichtlich nicht die Gelegenheit haben. Die Fragen Wassermairs gehen in die Tiefe, lassen Fachleute live nach ihrem Wissen schürfen, reflektieren. Da geben ein Josef Ertl vom “Kurie”r und “OÖNachrichten”-Politik-Mann Wolfgang Braun ausführlicher als sonst ihre Meinung kund, zeigt Life-Radio-Redaktionsleiterin Daniela Dahlke eine von ihr unbekannte Seite oder hat Werner Pöchinger mehr Analyse-Raum als ein paar “Kronen Zeitungs”-Zeilen. Und reden “OÖN”-Chefredakteur Gerald Mandlbauer und “Standard”-Redakteur Markus Rohrhofer über Dinge aus der Medienbranche, die sonst öffentlich eher nicht angesprochen werden. Alles ist live, später online, geschnitten wird nichts.
Sudern ist nicht Wassermairs Ding: Und so gehört er zu den wesentlichen Mitinitiatoren der Wahlkabine, die mittlerweile internationales Vorbild für ähnliche Tools im Vorfeld von Wahlen ist. “Das war mein erstes großes politische Projekt, Ich habe es 13 Jahre geleitet. Seitdem kenne ich so viele Leute”, sagt er lachend. Die Wahlkabine habe ihn zu einem politischen Akteur gemacht: “Du erreichst Millionen von Menschen. Alleine, welche Frage du stellst und wie du sie stellst – damit hast du eine große Verantwortung: Damit, wie sie auf die Menschen und ihre Köpfe wirkt. Sie darf nicht suggestiv sein, sie darf nicht manipulativ sein und sie muss verständlich sein. Dieses Know-how nützt mir bei der redaktionellen Arbeit bei Dorf TV”. Mit Wortwahl und Framing geht er bewusst um, beobachtet in dieser Hinsicht kritisch Gesellschaft und Medien – von Chancengleichheit bis hin zur Flüchtlingsthematik.
Privates gibt Martin Wassermair kaum preis. Ein paar Erinnerungen – an seine Jugend in den 80ern – kommen in seinem Buch “Mit strahlenden Augen”, Löcker Verlag, vor. Erschienen ist es im November 2017, zu den Co-Autoren zählen Michel Reimon, Lena Doppel und Corinna Milborn.
Die Gäste bei den Stachel-im-Fleisch-Sendungen wirken stets relativ entspannt. Dafür gibt es verschiedene Gründe. “Sie fühlen sich wohl, weil sie bei mir Zeit bekommen. Sie wissen, sie haben eine Stunde. Die Leute sagen, super, da kann man wirklich Dinge besprechen”, sagt der Journalist des Jahres. “Es gibt kaum mehr solche Formate. Ich hab selbst schon oft Interviews gegeben – da hieß es, in 15 Sekunden musst du das gesagt haben! Im Grunde genommen muss man da gleich einmal verweigern.” Seine Gäste wissen viel, haben viel zu sagen. Selbst Medienleute finden in den eigenen Zeitungen nicht so viel Platz für Inhalte wie bei ihm.
Vom Journalismus lebt Wassermair nicht. “Ich stehe auch nicht auf der Payroll von Dorf TV. Ich arbeite für einen Verein, zudem derzeit an einer kulturpolitischen Veranstaltungsreihe.”
“Ich glaube, ich bin einer der ganz wenigen Gesprächsleiter, die ohne Moderationskarten arbeiten”, so Wassermair. Er bereite sich vor, “aber ich möchte mich nicht von Vornherein total festnageln, worüber wir reden. Bei mir entsteht der Gesprächsweg oft auch im Gehen.” Er werde immer wieder gefragt, woher sein enormes Wissen stammt. Das könne er nur damit beantworten, dass er sich schon so lange mit Politik beschäftige: “Um eine lückenlose Kenntnis des tagesaktuellen Geschehens geht es nicht.” Das, was bei seinen Gästen vermutlich Gefallen findet, ist, “dass ich der Politik wieder ihre politische Sphäre zurückgebe. Der Vorteil von Dorf TV ist, dass ich auf keine Quote achten muss”.
Obwohl nie Teil des Konzepts, ist ihm bei der Sendung “Wassermair sucht den Notausgang” eine Kontinuität gelungen: “Bis jetzt gab es 22 Sendungen. Ich habe mir das nie vorgenommen, aber unter den 22 Gäste waren nur Frauen, z. B. Heide Schmidt und Corinna Milborn. Mich hat das immer so genervt, egal, mit wem du redest, wenn jemand gesagt hat: Wir haben da eine Podiumsdiskussion, wir haben selbstverständlich versucht, eine Frau zu finden, aber zu diesem Thema gibt es keine, keine hat Zeit …” Er habe es dann selbst als Herausforderung empfunden, zu jedem Thema eine zu finden. Und es gibt nicht nur eine gute Frau – es sind drei, fünf, …” Frauen haben mehr Skrupel, denken dreimal mehr nach. “Männer reflektieren oft gar nicht, ob sie dem Thema überhaupt gewachsen sind”, weiß Wassermair. “Männer sind so von sich überzeugt. Die kommen einfach und setzen sich vor die Kamera.”
Für ihn selbst sei “Der Stachel im Fleisch” ebenfalls eine politische Bühne. “Ich verfolge bewusst einen ganz eigenen Gesprächsleitungsstil. Für mich ist wichtig, nicht nur hyperneutral zu moderieren, sondern schon auch eigene Ansichten einzubringen, eine Meinung zu vertreten. Das ist durchaus ein schmaler Grat, in Richtung Meinungsbildung zu wirken, gerade wenn es um Menschenrechte geht”, so der Politik-Experte. “Dann sage ich halt zum Beispiel einmal, dass ich nicht verstehen kann, dass wir im Jahr 2018 eigentlich mehr als zuvor um ein Verständnis um Menschenrechte kämpfen müssen. Das ist eine persönliche Meinung. Aber ich stehe dazu.”
Der Linzer bittet seine Gäste im Studio nie auf die Couch, stets auf die Sessel – das Setting ist immer klar. “Ich möchte es für meine Gäste nicht gemütlich einrichten. Weil das die Konzentration fördert”, so Wassermair. “Ich mache ausschließlich Live-Sendungen. Viele beklagen das und sagen, was ist, wenn ich einen Fehler mache – dann könnten wir es ja noch einmal aufnehmen. Genau deshalb mache ich es nicht. Es hat auch einen gewissen Lerneffekt: Die Diskussionsteilnehmerinnen und –teilnehmer lernen mit ihren eigenen Schwächen umzugehen.”
Fußball gehört ebenfalls zu Wassermairs Leben – als kritischer Beobachter. Als solcher war er als Autor des Magazins “Ballesterer” tätig: “Das habe ich aus einer persönlichen Leidenschaft zum Fußball gemacht, und weil ich das auch als eine Art von Psycho-Hygiene gebraucht habe. Ein anderes Themenfeld als immer nur Kunst, Kultur, Politik, Medien.” Sogar über Fußball aus Zentralafrika schrieb er, als er zwei Jahre als Dozent an der Universität von Maroua/Kamerun zu Politik, Medien und Geschichte lehrte.
Der Formattitel “Der Stachel im Fleisch” geht übrigens auf einen Beitrag Wassermairs in der “Kupfzeitung” zurück. Damals interviewte er kurz vor der Landtagswahl 1997 Landeshauptmann Josef Pühringer. Er wollte von ihm wissen, welche Funktion Kulturinitiativen haben sollen. Pühringer meinte darauf: “Dass Kulturinitiativen mitunter auch der Stachel im Fleisch sind.”
Heidi Vitez ist freie Journalistin in Linz.