Dekoloniale Raumaneignung als demokratische Unterbrechung

Ausstellung WANDALA widersetzt sich stereotypen Afrika-Bildern

„Wie kann mit dem Paradoxon umgegangen werden, dass die Aufklärung trotz ihrer Ausrichtung auf das weiße, männliche, bürgerliche Subjekt für kritische Analysen weiterhin unverzichtbar ist?“ In zahlreichen Publikationen untersucht María do Mar Castro Varela die Frage der Dekolonisierung in ihrem Verhältnis zu transnationaler Gerechtigkeit, Demokratisierung, Menschenrechten, Globalisierung, Entwicklungspolitiken und dem schwierigen Erbe der Vergangenheit. Die renommierte Politikwissenschaftlerin und Pädagogin regt dabei immer wieder zu einer Auseinandersetzung an, wie die Thesen, Konzepte und Annahmen der europäischen Aufklärung über die Grenzen Europas hinaus befördert werden können, „um den ehemals Kolonisierten tatsächlich zu dienen, ihr eigenes Verständnis von Demokratie, Recht und Freiheit zu erarbeiten“.

Auch Museen und Ausstellungshäuser zählen heute zu den paradoxen Hinterlassenschaften der kolonialzeitlichen Aufklärung. Die Ansprüche an die Institutionen haben sich mit den sozialen und kulturellen Umbrüchen seither merklich verändert. Die Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Nora Sternfeld sieht etwa das Museum keineswegs mehr „außerhalb der Wissens- und Bewertungsgesellschaft“. Doch wie kann es in Gegenwart und Zukunft die Rolle eines Begegnungsortes wahrnehmen, an dem auch Kunstvermittlung zur Demokratisierung beiträgt? Sternfeld erkennt Möglichkeiten vor allem in einer alternativen Bedeutungsproduktion, in der Aneignung von Raum und im Infragestellen der Musealisierung. Vor dem Hintergrund der Dekolonisierung ist demnach mit gängigen Narrativen zu brechen, mit den tief verwurzelten Erzählweisen, die sich – aus der kulturhistorischen Perspektive der Mächtigen – noch immer als überlegen und vorherrschend begreifen. Hier setzt schließlich die Idee eines „radikaldemokratischen Museums“ an: marginalisierte Blickwinkel und kritische Betrachtungen stärker zu berücksichtigen, den Status quo der traditionellen Repräsentationsformen wirksam zu durchkreuzen und den Rassismen sowie Privilegien der weißen Mehrheitsgesellschaften allmählich ein Ende zu bereiten.

Im Oktober 2025 wird mit WANDALA im Offenen Kulturhaus (OK) in Linz eine Ausstellung eröffnet, die darauf abzielt, stereotype Afrika-Bilder aus ihren kolonialen Verankerungen zu lösen und hegemoniale Narrative zu unterlaufen. Demokratie und Demokratisierung sind schließlich nicht jenen vorbehalten, die bis heute von jahrhundertelanger Gewalt, Ausbeutung und Versklavung profitieren. Um diese Schieflagen auch an den Orten der Kunst aufzuheben, braucht es dramaturgische Revolten, die mit selbstbestimmten Bildern der Dekolonisierung die alte Ordnung auf den Kopf stellen und – gleich einer neuen Diaspora der Imagination – gleichberechtigte Besitzansprüche formulieren. Der Titel der Ausstellung erinnert zunächst an das allmählich versinkende Königreich Wandala im Norden Kameruns, fungiert aber, wie Alfred Weidinger, wissenschaftlicher Direktor der OÖ. Landes-Kultur GmbH, erklärt, „als vielschichtige Metapher für ein Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Verdrängung, Selbstbehauptung und Fremdzuschreibung, Sichtbarkeit und Marginalisierung“. WANDALA wird so zu einem Symbol der dekolonialen Auseinandersetzung, das sowohl an die einstige Größe erinnert als auch die andauernde Wirksamkeit struktureller Ausschlüsse aufzeigt, wie sie in gegenwärtigen Machtstrukturen und medialen Bildern Afrikas fortbestehen.

Die künstlerischen Arbeiten von Namafu Amutse (Namibia), Mbaye Diop (Senegal) und Olivia Mary Nantongo (Uganda) beschäftigen sich folgerichtig mit kolonialen Narben, klischeehaften Körperbildern und gesellschaftlichen Spannungen. Amutse inszeniert in ihren Fotografien Schwarze Körper und stellt Fragen nach einer fluiden und dynamischen afrikanischen Identität. Diop thematisiert die Zerrissenheit zwischen Tradition, dem dunklen Vermächtnis der Unterwerfung und moderner Überformung, wobei sein eigener Körper zum Ausdruck von Widerstand und Erschöpfung wird. Nantongo wiederum nutzt ihren Körper als wandelbare Skulptur, um mit Weiblichkeit, Zorn und aufrührerischen Bildsprachen zu experimentieren und sich bewusst exotisierenden Erwartungen zu entziehen.

„Warum ist Afrika so durchlöchert und unterhöhlt?“, fragt der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe. „Wann wird diese Sache angegangen, wohin gehen wir bloß?“ Museen und Ausstellungshäuser dürfen sich nicht abwenden, sondern stehen in der Pflicht, Verantwortung jenseits von Gefälligkeiten und Beifallsheischerei zu übernehmen. WANDALA zeigt Möglichkeiten auf, das Antlitz der Versklavung abzulegen und der Viktimisierung, die über Jahrhunderte ein willfähriges Pendant zu Plünderungen und Drangsalierungen bildete, eine Abfuhr zu erteilen – mit dem längst überfälligen Widerspruch neuer Narrative. Das Abrücken von stereotypen Bildern sucht die Konfrontation mit den vielen Widersprüchen von Unterdrückung und Auflehnung, deren dialektischer Erzählung sich der von Reichtum übersättigte und zur Festung hochgerüstete Westen so hartnäckig verschließt. WANDALA veranschaulicht den künstlerischen Drang nach einem Ausbruch aus dem, wie es der senegalesische Ökonom und Politiker E. H. Ibrahima Sall formuliert, „Archipel des Trügerischen“ – als Drama, als Traum, vor allem aber dekolonisiert.

Der französische Philosoph Jacques Rancière beschreibt „Demokratie als Unterbrechung der Ordnung“. Seiner Auffassung zufolge bilden Kunst und Museen ein ästhetisches Regime, das Wahrnehmung und Sichtbarkeit strukturiert – eine Herrschaftstechnik, die durch Klassifizierung und Archivierung Bedeutung verleiht und zugleich Ausschlüsse schafft. Eine dekolonisierende Praxis wäre hingegen ein Akt der Politik: Sie macht die Stimmen derer wahrnehmbar, die bislang keinen Anteil an der Produktion von Narrativen hatten. Eine dekolonisierende Praxis erweist sich somit als politischer Akt der Unterbrechung und Neuverhandlung. Der Globale Süden ist nicht länger außen vor – auch die zeitgenössische afrikanische Kunst beansprucht ihren Raum. Die Kunstvermittlung steht damit vor der großen Chance, ein hoffnungsvolles Demokratieversprechen einzulösen.

Credits und Zusatzinfos:

WANDALA – drama . dream . decolonized! ist ein von Martin Wassermair kuratiertes Projekt der OÖ. Landes-Kultur GmbH. in Kooperation mit der Kunstzeitschrift springerin, die dem Thema einen Schwerpunkt in der September-Ausgabe gewidmet hat. Die Ausstellung wird am 16. Oktober 2025 eröffnet und ist bis 22. Februar 2026 zu sehen.

Literatur:

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, „Die Universalität der Menschenrechte überdenken“, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 20/2020, www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/309087/die-universalitaet-der-menschenrechte-ueberdenken (25.08.2025).

Achille Mbembe, Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika, 2016.
Théophile Obenga, „Ein Hauptgrund für die Leiden Afrikas: die eurozentrischen Afrikadeutungen“, in: Peter Cichon, Reinhart Hosch, Fritz Peter Kirsch (Hg.), Der undankbare Kontinent? Afrikanische Antworten auf europäische Bevormundung, 2010.

Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, 2002.

Nora Sternfeld, „Das radikaldemokratische Museum“, in: curating. ausstellungstheorie & praxis – Band 3, 2018.