Von Otto Bismarck ist die mürrische Anmerkung im Kreise seiner Vertrauten überliefert, man solle sich doch „beim Wurstmachen und Politikmachen“ am besten nicht über die Schulter blicken lassen. Die Nachwelt darf dem herrschsüchtigen deutschen Reichskanzler des ausklingenden 19. Jahrhunderts dafür durchaus dankbar sein. Schließlich wird nur selten derart offenherzig ausgesprochen, dass ungezügelte Machtausübung, geistig-kulturelle Oberhand und gesellschaftliche Giftmischerei eine kritische Öffentlichkeit über alles fürchten.
Auch die Gegenwart weiß von dieser Furcht der Herrschenden zu berichten. Doch mittlerweile gestalten sich die Verhältnisse durchaus ein bisschen komplizierter. Die zur öffentlichen Kritik angehaltene Informationslandschaft, deren sorgfältige Gewährleistung unter den Gesichtspunkten von Meinungs- und Pressefreiheit auch demokratischen Systemen immer wieder in Erinnerung gerufen werden muss, ist auf dem besten Wege, endgültig aus den festgefahrenen Fugen zu geraten. Von Medien als die vierte Säule der Gewaltenteilung kann schon lange nicht mehr die Rede sein. Der Intellekt, der etwa auch in Österreich noch zur Zwischenkriegszeit die namhaften Gazetten prägte, musste sich schon sehr früh der Profitgier geschlagen geben. Und seit der Globus von der Digitalisierung hektisch angetrieben wird, machen vor allem Social Media, Fake News und eine erdrückende Nachrichtenüberflutung deutlich, wie sehr sich die klassische Beziehung des Journalismus zum Publikum verändert hat. Denn so wie die mediale Sphäre nicht mehr nur den Allwissenden in altehrwürdigen Redaktionen vorbehalten ist, so haben auch die Gesten der Belehrung gegenüber den Nicht-Informierten bereits weitgehend ausgedient.
Doch welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Was bedeutet dieser Umbruch für die Auseinandersetzung mit Politik und Zeitgeschehen? Die Antwortsuche beginnt in der Antike bei Platon und dessen Lehrer Sokrates. Das Höhlengleichnis, das in dem epochalen Werk „Politeia“ einen zentralen Platz einnimmt, erzählt davon, dass die geschundenen Menschen, die in der Tiefe ihr Dasein fristen müssen, die Schatten an den Wänden als ihre Wirklichkeit erachten. Tatsächlich aber, wovon niemand weiß, handelt es sich bei dem kärglichen Licht des Feuers lediglich um die Schattenprojektionen ihrer selbst – und was sich da vor den Augen der Leidgeprüften abspielt, gilt ihnen fortan als über jeden Zweifel erhabene Wahrheit.
Die Parabel hat aktuell nichts an Bedeutung eingebüßt. Für viele Menschen wird es tagtäglich schwieriger, eine differenzierte Orientierung in unserer Medienwelt zu behalten – mit zum Teil skurrilen Verhaltensreaktionen. Kaum ist einmal, sozusagen als zeitgenössische Schattenprojektion bei diffuser Sicht, von einer „Digitalen Revolution“ die Rede, bricht sich schon Ratlosigkeit breite Bahnen, erzeugt neue Kulturpessimismen und findet sogar Eingang in die an Trivialitäten kaum zu überbietende Bestseller-Literatur. Der deutsche Psychiater und Bestseller-Autor Manfred Spitzer verteufelt etwa das Internet seit Jahren als Auslöser einer neuen kollektiven Demenz und warnt Eltern vor dem Schrumpfen der Gehirne ihrer Kinder in der Wachstumsphase. Tatsächlich schwindet in den Redaktionsstuben die Zuversicht einer jahrzehntelang selbstvergewisserten Print- und Rundfunk-Idylle, dass sich journalistisches Ansehen und die ehrfurchtgebietende Alleinstellung in der öffentlichen Meinungsbildung allem digitalen Unbill zum Trotz auf immer und ewig hochhalten ließen. Das Lecken der Wunden verstellt aber offenkundig den Blick auf die tristen Realitäten der gegenwärtigen öffentlich-medialen Sphäre. „Eine Manege für überdrehte Clowns“, fragt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen daher folgerichtig in seinem erfolgreichen Buch „Die große Gereiztheit“, „und für diejenigen, die am lautesten brüllen und am effektivsten provozieren?“. Die Einschätzung kommt nicht von ungefähr, es gibt dafür eine ganze Menge Ursachen – und auch Verantwortliche, die den Karren an die Wand gefahren haben.
Jürgen Habermas hoffte in seiner Wahrheitstheorie noch auf eine Welt, „in der das Phänomen des eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ noch Gültigkeit besitzt. Der angesehene Philosoph und Soziologe hatte zu Beginn der 1970er Jahre noch keine Ahnung, dass der Prozess der gesellschaftlichen Aushandlung schon dreieinhalb Jahrzehnte später von intransparenten Bots und Algorithmen geradezu spektakulär aus den Angeln gehoben wird. Damit rückt aber das Ideal des, wie Habermas es formulierte, „herrschaftsfreien Diskurses“ umso mehr in weite Ferne. Dass das Prinzip der Gleichheit in der Teilnahme, die Problematisierbarkeit aller Themen und Meinungen sowie die Inklusion des Publikums insbesondere auf Social-Media-Plattformen nur vorgegaukelt werden, findet – umso erstaunlicher – allgemein noch immer viel zu wenig Beachtung. Und auch der mediale Mainstream, der viel eher die wirtschaftlichen Zahlen als die Demokratisierung der gesellschaftlichen Debatten im Auge behält, ist angesichts des digitalen Wandels immer unbeweglicher geworden. Da haben auch gelegentliche Panikattacken nicht zu einem Umdenken geführt – denn offene Zugänge, gleichberechtigte Beteiligung und selbstbestimmte Medienproduktion werden da noch immer wie eine Fehlanzeige abgetan.
„Wenn Nachrichten wichtig sind, werden sie mich schon finden!“ – Diese mehr als seltsam anmutende Folgerung wird gerade Digital Natives nur allzu oft in den Mund gelegt, wenn eigentlich das Klagelied angestimmt werden soll, der Nachwuchs hätte jede Ehrfurcht vor der immer schon hierarchischen Ordnung der Informationswege abgestreift. Hier tappen die Besorgten, die insbesondere in journalistischen Zirkeln unermüdlich die eine Wahrheit zu retten versuchen, in die Falle der eigenen Kurzsichtigkeit. Das weltweite Phänomen der Klimastreiks von Schülerinnen und Schülern führt zum Beispiel eindrucksvoll vor Augen, wie Umweltbewusstsein und die Empörung gegenüber der Ignoranz und Tatenlosigkeit der Erwachsenen kraftvoll Ausdruck finden können.
Die Jungen sehen heute wenig Veranlassung, die Problematisierung ihrer bedrohten Zukunft nach den vielen Enttäuschungen auch noch weiterhin den kaum ernstzunehmenden Erörterungen durch alte Politik und alte Medien alleine zu überlassen. Deshalb – um noch einmal das antike Gleichnis heranzuziehen – sorgt gerade auch der zivile Ungehorsam vieler Jugendlicher für Irritation und Verstörung. Und das nicht so sehr aufgrund der Fehlstunden in der Schule am Freitagvormittag, sondern weil Erzählung und Bildproduktion fortan nicht mehr nur in den Händen journalistischer Eliten liegen. Aus der Verdunkelung der Sachverhalte auszubrechen, sich der verzerrenden Deutung des Zeitgeschehens nicht mehr zu beugen, sondern eigenständige Sichtbarkeit und Wirkungsmacht zu erzielen – der transnationale Ruf nach Veränderung verschafft sich immer lauter und radikaler Luft. Doch was lässt sich jetzt im Hinblick auf gleichberechtigte Mitwirkung an der weiteren Medienentwicklung tatsächlich anders machen?
„Die Maximen einer redaktionellen Gesellschaft liegen bereits vor“, schreibt Bernhard Pörksen, „sie müssen lediglich aus ihrer allzu engen Bindung an eine einzige Profession gelöst und als Elemente einer allgemeinen Kommunikationsethik vorstellbar gemacht werden. Sie dienen dann nicht mehr nur der Orientierung von Journalistinnen und Journalisten, sondern einem größeren, übergeordneten Ziel: Sie sollen es der Gesellschaft erlauben, sich auf eine möglichst direkte, schonungslose und wahrheitsorientierte Art und Weise selbst zu beschreiben, ihre vielschichtigen und verstreuten Interessen zu sortieren und auszudrücken und auch Ohnmächtigen und Marginalisierten Stimme und Sichtbarkeit zu verschaffen, deren Einsichten und Ansichten sonst öffentlich nicht verfügbar wären. In diesem Sinne sind sie für eine lebendige Demokratie unabdingbar.“
Es wird noch länger dauern, bis die hier beschriebene Einsicht in die – von einer ungebrochenen Krisenstimmung angeheizte – Diskussion um unsere gesellschaftliche Zukunft tiefgreifend Eingang finden kann. Was bei Pörksen mit noch etwas utopischem Beigeschmack als „redaktionelle Gesellschaft“ beschrieben ist, gibt dennoch schon jetzt wertvolle Hinweise darauf, dass die Gegenwart vor allem neue demokratische Narrative dringend nötig hat. Dafür wird allerdings entscheidend sein, dass so viele Menschen wie möglich sich an der medialen Bedeutungsproduktion beteiligen. Also Schluss mit Fingerzeig und Achselzucken! Denn dieser Prozess ist kaum noch aufzuhalten. Und auch der Journalismus wird schon bald an seiner Bereitschaft zu Einräumungen zu messen sein – vor allem in der Frage, inwieweit mediale Räume zur breiten gesellschaftlichen Teilnahme unter der Wahrung von Respekt, Meinungsvielfalt und kultureller Diversität zur Verfügung stehen.
Land der Freien Medien – die gemeinsame Zeitung des nicht-kommerziellen Rundfunks in OÖ