Ein für die Mediengesellschaft unauflösliches Dilemma?

Zur Betrachtung des Krieges in den Bahnen nicht gekannter Widersprüche

Mit „Die letzten Tage der Menschheit“ hat Karl Kraus der Nachwelt ein dokumentarisches Weltkriegsdrama hinterlassen, das, verfasst in den Jahren 1915 bis 1922, mit schonungsloser Wortgewalt die Unmenschlichkeit und Absurdität des großen Völkermordens zu entlarven sucht. Die Erzählfigur des Nörglers verkörpert darin das eigene Alter Ego. Wenig versöhnlich macht Kraus mit dieser Rolle die Absicht klar, die Verrohung und damit den Untergang des durch die Medien von der Sprache entfremdeten Menschen aufzuzeigen: „So macht die Zeit das Wesen unkenntlich, und würde dem größten Verbrechen, das je unter der Sonne, unter den Sternen begangen war, Amnestie gewähren. Ich habe das Wesen gerettet und mein Ohr hat den Schall der Taten, mein Auge die Gebärde der Reden entdeckt und meine Stimme hat, wo sie nur wiederholte, so zitiert, daß der Grundton festgehalten blieb für alle Zeiten.“

Mehr als ein Jahrhundert später zeigt sich das Wesen des Krieges unverändert in seiner Niedertracht. Für die am 24. Februar 2022 entfachte Aggression Russlands gegen die Ukraine ist vorerst noch immer kein Ende in Sicht. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) errechnete zum Stichtag 31. Dezember 2024 bis zu 12.500 Todesopfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung, darunter mindestens 670 Kinder. Hinzu kommen für diesen Zeitraum rund 700.000 Menschen, die auf beiden Seiten im militärischen Einsatz getötet oder verwundet wurden. Totalitäre Unrechtsregime, islamistische Terrorverbände und eine unüberschaubare Menge von Warlords sorgen unterdessen im Nahen Osten, auf dem afrikanischen Kontinent sowie in vielen Teilen Asiens für eine Destabilisierung und die Verwüstung ganzer Landstriche. Die Ikonographie der Ruinen von Mariupol, in Gaza oder der aserbaidschanischen Stadt Qubadlı, um eine Auswahl zu nennen, führt die Brutalität der Kriegsführung auch des 21. Jahrhunderts dramatisch vor Augen. Doch wer richtet im Informationschaos der Gegenwart den Blick auf das grausame Morden, wer stellt die Heroisierung bloß, wer demaskiert Manipulation und Propaganda – und wer bereitet der Welt die Daten- und Wissensgrundlagen auf, damit Verbrechen gegen die Menschheit letztlich schonungslos geahndet werden können?

Die US-amerikanische Kulturkritikerin und Regisseurin Susan Sontag beschäftigte sich bis zu ihrem Tod 2004 mit den Bildsprachen des Krieges: „Wer sich einmischt, kann nicht berichten; und wer berichtet, kann nicht eingreifen.“ Ein für die Mediengesellschaft unauflösliches Dilemma, das zugleich auch als Warnung vor der „Suggestivkraft der Oberflächenabtastung“ visueller Herangehensweisen zu betrachten ist. Susan Sontags Werke gelten als bedeutsame Standardreferenz zur Kriegs- und Krisenfotografie. Ihre Skepsis teilt sie mit Alexander Kluge. Der 93-jährige Schriftsteller, Theoretiker und Filmemacher hat mit „Kriegsfibel 2023“ ein viel beachtetes Druckwerk veröffentlicht, das auf die dialektische Verknäuelung militärischer Konflikte verweist. Kluge geht es dabei „um eine Ebene der Abstraktionen und der Schriftlichkeit, auf der Sprachregelungen, Vereinbarungen und gemeinsame Werte festgehalten sind“. Wichtig ist ihm vor allem eine für die Rezeption maßgebliche Unterscheidung: „Was nach Kriegsausbruch die Fluchtbewegung auslöst und die Toten verursacht, also die Konkretion, ist ein anderer Aggregatzustand als die politische Kartographie“. Alexander Kluge stellt daher Fragen – um Antworten zu suchen, die sich niemandem in den Dienst stellen, die nicht nach Wohlwollen trachten, sondern der Auseinandersetzung, der Gegenrede, einen Anstoß bieten. In diesem Sinne blickt Kluge auch auf den Krieg, der, so schreibt er, „sich in den Bahnen nicht gekannter Widersprüche bewegt“.

Der hier vorliegende Sammelband greift diese Überlegungen auf und stellt sie zugleich auf die Füße. Die dafür wohl wichtigste Inspiration kam von Alfred Hermann Fried. Der österreichische Friedensnobelpreisträger des Jahres 1911 machte bereits auf sich aufmerksam, als er 1901 mit dem Buch „Unter der Weißen Fahne!“ seine Ansichten über die Friedensbewegung und die Beziehungen zwischen Friedensjournalismus und Medien im Rahmen des politischen Systems seiner Zeit vorstellte. Der „ursächliche Pazifismus“, so beschrieb Fried den wesentlichen Leitgedanken seines Werkes, wende sich nicht unmittelbar gegen den Krieg als Folge von Konflikten, sondern gegen deren Ursachen in Anarchie und Feindschaft innerhalb der Staatenordnung. Der Journalismus habe dabei mitzuwirken, statt des Krieges „eine andere Folge“ hervorzubringen, nämlich nachhaltigen Frieden.

Dieses Postulat stand am Beginn der Überlegungen für ein Fernseh-Talkformat, das schließlich im Zeitraum von August 2022 bis Jänner 2023 im Programm des oberösterreichischen Community-Senders DORFTV zu sehen war (weiterhin verfügbar in der DORFTV Thek). Der Titel „Unter weißer Flagge“ verdeutlicht eine bewusste Anlehnung an Alfred Hermann Fried, dessen unermüdlicher Einsatz als Wegbereiter für den Friedensjournalismus vor den beiden Weltkriegen gerade auch in der Gegenwart eine Würdigung verdient. „In Zeiten des Krieges“, schreiben der Historiker Jörg Calließ und der ehemalige WDR-Redakteur Stefan Raue, „sind Offenheit, Differenzierung und Nüchternheit in der Beobachtung, Wahrnehmung und Bewertung dessen, was geschieht, noch mehr gefragt als sonst. Gerade in einer demokratischen Gesellschaft sollten die dann alles andere in den Hintergrund drängenden Fragen von Krieg und Frieden in einem Diskurs erörtert werden, der die Köpfe frei macht und die Urteilsfähigkeit schärft“.

Im digitalen Zeitalter sind Kriege längst zu globalen Medienereignissen geworden. Wie gelingt unabhängiger Journalismus, wenn Informationen in Konfliktsituationen immer auch ein Mittel der militärischen Propaganda sind? Woran ist mediale Verantwortung zu messen? Wo findet die Darstellung von Tod und Zerstörung medienethische Grenzen? Eine Betrachtung des Krieges in den, wie es Alexander Kluge formuliert, „Bahnen nicht gekannter Widersprüche“ bringt demnach die Herausforderung mit sich, die Gesamtheit der Kommunikationszusammenhänge zu erfassen. Medien, die mit der Berichterstattung und Debatte eine konkrete Haltung erkennen lassen wollen, tragen maßgeblich zur Aufklärung bei, „wer welche Melodie spielt“, so Calließ und Raue, „im Konzert der militärischen, der politischen, der emotionalen und der moralischen Diskurse“.

Diesem Anspruch folgend fokussierte die elfteilige Sendereihe keineswegs nur auf einzelne Ereignisse und Entwicklungen (bis Frühjahr 2023), sondern setzte Kriege unter den Voraussetzungen moderner Informationstechnologien in einen Zusammenhang mit den Erfordernissen von Unabhängigkeit und differenzierenden Darstellungen in der medialen Rezeption. Narrative in der Kriegsberichterstattung, die Wirkmacht der Bilder, mediale Selbstkontrolle, Medien als Instrumente der Kriegspropaganda, Journalismus für den Frieden, Konfliktbewältigung und mediale Früherziehung finden somit auch im vorliegenden Buch zum TV-Format besonderes Augenmerk. Die Gespräche wurden dafür redigiert und verdichtet, weshalb sich ein gut lesbarer Bogen über die vielen Standpunkte und Sichtweisen spannt, der vielleicht auch die Hoffnung zum Ausdruck bringt, dass das mediale Interesse an zivilen Formen der Konfliktaustragung gegenüber der Durchsetzungskraft der modernen Kriegsführung nicht zwangsläufig ins Hintertreffen gerät.

Quellennachweise

Calließ, Jörg / Raue, Stefan (2004). Diskurse in Zeiten des Krieges. Die Kritik an der Kriegsberichterstattung braucht weitere Horizonte, in: Büttner, Christian / Von Gottberg, Joachim / Metze-Mangold, Verena: Der Krieg in den Medien, Frankfurt/Main.

Kluge, Alexander (2023). Kriegsfibel 2023, Berlin.

Sontag, Susan (1989). Über Fotografie, München/Wien.

„Unter weißer Flagge“ auf DORFTV