Schon vor den offiziellen Feierlichkeiten betonte Ioan Holender, dass die Wiedereröffnung der Staatsoper am 5. November 1955 “der wichtigste Anlass für die Wahrnehmung der wiederhergestellten Existenz Österreichs” gewesen war. Es sei also nicht nur an der Zeit zu jubeln, sondern “alles zu tun, um die Vergangenheit zu beleuchten, damit die Gegenwart etwas heller wird.”
Mit großer Spannung durfte daher am vergangenen Samstag dem Festakt entgegen gesehen werden. Sicherlich, Direktor Holender erinnerte in seiner Rede an die Jahre des NS-Regimes, an Verstrickungen zahlreicher Stars, sowie an die “Dekade des gleitenden Übergangs und des Vergessens”, die nach 1945 vor allem die vielen Vertriebenen unverändert schmähte. Die Mythen und Legenden, die sich rund um das wieder errichtete Opernhaus in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben, wurde dennoch nicht entrümpelt.
Die Inszenierung vor nunmehr 50 Jahren sollte nach Staatsvertrag und Verabschiedung der Alliierten einer ganzen Nation noch einmal den Leidensweg vor Augen führen. Tatsächlich wählte der damalige Operndirektor Karl Böhm für die Eröffnung Beethovens Freiheitsoper “Fidelio”, weil er sich “mit dem Schicksal des Florestan und seiner Gefangenschaft auf das innigste verbunden fühlte”. Eine sehr dreiste Verknüpfung, die aber der in Politik und Gesellschaft tief verankerten Grundhaltung der Nachkriegszeit entsprach. Österreichs Selbstdarstellung in der Opferrolle fand im Zuge der Feierstunden am 5. November 1955 erstmals auch den Weg ins Fernsehen.
Böhm, der als ehemals strammer Nazi und “Privilegierter von Goebbels Gnaden” nach 1945 mit einem zweijährigen Berufsverbot belegt worden war, durfte sich zehn Jahre später schon wieder sicher fühlen und setzte seine Karriere ungebrochen fort. Im “Kalten Krieg gegen die Moderne” fanden sich nicht nur zahlreiche NSDAP-Mitglieder in einflussreichen Positionen wieder. Staatliche verordnete Heimat-Idylle, Provinzialismus, Antikommunismus, Hartwährungspolitik und das endgültige Zurückdrängen einer aufrührerischen Kunst sorgten für ein geistiges und kulturelles Klima, in dem eine weit reichende Erneuerung als unerwünscht angesehen wurde. Heinrich Drimmel, der rechts-konservative Unterrichtsminister unter Julius Raab, erklärte die Haltung seiner Kulturpolitik später damit, dass die “Marmorfassade der Kulturpaläste” überzeugender wirke als das “drängende Verlangen nach Beseitigung des Notstandes der künstlerischen Betätigung”. Schon zu dieser Zeit galt als unösterreichisch, wer kritisch danach fragte, warum Beethovens Freiheitsopus immer wieder an historischen Bruchlinien anzutreffen ist. Schließlich war der “Fidelio” nicht nur am 27. März 1938 mit politischen Inszenierungsabsichten zur Aufführung gelangt, sondern zuvor auch am 12. September 1933, am Tag nachdem Engelbert Dollfuß in seiner Trabrennplatz-Rede Österreichs demokratische Ordnung endgültig begraben hatte.
Spätestens am 5. November 1955 wurde deutlich, dass das neue Opernhaus keineswegs “ein wahrhaft demokratischer Sammelpunkt für alle Kunstbegeisterten” werden sollte, wie es Wiens Kulturstadtrat Viktor Matejka noch im Oktober 1945 gefordert hatte. Der Neubeginn entpuppte sich bestenfalls als politische Rhetorik. Die Staatsoper, insbesondere aber die neuerdings auch massenmedial transportierten Bilder und Erzählungen, verfolgten einzig das Ziel, das politische System unter einem anti-modernen und gegen-aufklärerischen Paradigma zu festigen. Wer also ernsthaft Vergangenheit beleuchten will, um die “Gegenwart zu belichten”, darf die Konfrontation mit den immer wieder kehrenden Mustern der rot-weiß-roten Identitätsstiftung nicht scheuen. Das Gedankenjahr, selbst Inszenierung im Auftrag einer österreichischen Regierung, hat dieses Erfordernis bislang nicht eingelöst.