Wandala

Ausbruch aus dem afrikanischen Archipel der Trugbilder

2015 erklärten die Vereinten Nationen über ihr Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) die Jahre bis 2024 zur „Internationalen Dekade für Menschen mit afrikanischer Herkunft“. Um deren uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilhabe an globalen Prozessen zu gewährleisten, sollten ihre sozialen, ökonomischen und politischen Rechte besondere Aufmerksamkeit erfahren. Der UNESCO als UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur war dabei eine zentrale Rolle zugedacht. Sie sollte sich die Förderung eines besseren Verständnisses von Kultur, Geschichte und des Erbes der Menschen afrikanischer Herkunft zur Aufgabe machen – mit Fokus auf Forschung, Bildung und Medien. Dabei stand wiederum die Zielsetzung im Vordergrund, historische Fakten über Sklaverei und Kolonialismus in einer Form wiederzugeben, die sich den bis in die Gegenwart wirkmächtigen Verfälschungen und Stereotypen widersetzt.

Die Internationale Dekade für Menschen mit afrikanischer Herkunft ist mittlerweile selbst Geschichte. Was mit dem Vorhaben tatsächlich an Veränderungen im globalen Bewusstsein bewirkt werden konnte, lässt sich kaum ergründen. Deutlich mehr Klarheit schaffen aktuelle Forschungsergebnisse zur medialen Marginalisierung Afrikas. Auf dem Kontinent leben 15 Prozent der Weltbevölkerung, es gibt 54 Staaten, etwa 3.000 Ethnien und ebenso viele Sprachen. Doch nicht diese soziopolitischen und kulturellen Multituden finden mehrheitlich Eingang in die Bildproduktion der reichweitenstarken Medien, sondern fast nur Kriege, Krisen und Katastrophen. Ladislaus Ludescher, deutscher Historiker und Literaturwissenschaftler, forscht und publiziert seit Längerem zur Ignoranz gegenüber dem Globalen Süden. Seinen Erkenntnissen zufolge wird Afrika noch immer vorrangig als „Sorgen-“ und „Hungerkontinent“ beschrieben, eine „Verbesserung der Situation“, erscheint, so Ludescher, „in vielen Darstellungen geradezu aussichtslos“. Die in westlichen Medien überwiegenden Bilder, Rhetorik und Deutungsmuster schreiben koloniale Narrative meist ungebrochen fort. Der Kontinent und seine Vielfalt werden darin in einer Dunkelheit abgebildet – etwa als „Heart of Darkness“ –, die eine „Andersartigkeit“ vermittelt, in der Gewalt, Korruption und Armut vorherrschen.

„Solange die Vorstellungen, die Wünsche, die Mentalitäten und Bestrebungen der Afrikaner im Schlüsselbereich der Kultur fremdbestimmt sind“, schreibt Théophile Obenga, „solange werden die schwarzen Nationen, die man enteignet und geschwächt, als inferiore Gefühlswesen abgestempelt hat, ohne Widerstand und Kritik alles, was der Westen ihnen bietet, hinnehmen: unfaire Partnerschaften, selektive Immigration, Ko-Entwicklung ohne Entwicklung, Verelendungsprogramme, die man strukturelle Anpassung nennt, Militärbasen, Ausbeutung der Rohstoffe, kulturelle Trugbilder.“ Der 1936 in der heutigen Republik Kongo geborene Historiker, Ägyptologe und Linguist kommt folgerichtig zu dem Schluss: „Es ist dringend notwendig, den eurozentristischen ‚Afrikastudien‘, die den jahrhundertealten Rassismus des Westens fortsetzen, die Gefolgschaft zu verweigern.“

Beim Ansatz dieser Verweigerung nimmt auch das diskursiv-künstlerische Projekt Wandala seinen Ausgang. Es wendet sich gegen die berühmte Sichtweise von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, den deutschen Idealisten und bis heute gefeierten Denker der Freiheit, der schon zu Zeiten der Aufklärung seiner Nachwelt eine Vorstellung von Afrika hinterließ, die ein „in sich gedrungenes Goldland“ skizzierte – ein „Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt“ sei. Als Akt der Selbstbehauptung begnügt sich Wandala nicht mit dem von Wut und Verzweiflung beseelten Augenaufschlag, die darin enthaltenen Kunsteingriffe errichten vielmehr eine Bühne, die vom gleichnamigen Sultanat Wandala zahlreiche Anstöße zur Loslösung von vermeintlich unverrückbaren Regieanweisungen erhalten hat. Das karge Mandara-Gebirge umrahmt im Norden Kameruns das überregionale Königreich, dessen Macht und Einfluss längst verflogen sind. Lediglich der verbliebene Hofstaat erinnert noch mit seiner pittoresken Ehrerbietung gegenüber dem traditionellen Herrscher an die vergangene Größe, so als wäre das unwegsame Bergland mit seinen steinigen Existenzbedingungen dem Weltenlauf entzogen. Wandala greift die vielen poetischen Momente dieses Ortes auf und ist sich zugleich der rücksichtslosen Zugriffe und des Jochs der Kolonialzeiten bewusst. Das Abrücken von stereotypen Bildern sucht die Konfrontation mit den vielen Widersprüchen von Unterdrückung und Auflehnung, deren dialektischer Erzählung sich der von Reichtum übersättigte und zur Festung hochgerüstete Westen so hartnäckig verschließt. Wandala widersetzt sich schließlich auch der Verurteilung zu historischer Marginalität und veranschaulicht den künstlerischen Drang nach einem Ausbruch aus dem, wie es der senegalesische Ökonom und Politiker E. H. Ibrahima Sall formuliert, „Archipel des Trügerischen“, als Drama, als Traum, vor allem aber dekolonisiert.

Von Mitte Oktober 2025 bis Ende Februar 2026 schafft das Offene Kulturhaus (OK) in der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz einen Raum der Begegnung mit Wandala. Die Vorbereitungen des Projekts führten ab Spätherbst 2023 nach Namibia, in den Senegal sowie nach Uganda. Dieses geografische Dreieck steckt die Weite Afrikas ab, dessen Verschiedenartigkeit auch in der Ausstellung zum Ausdruck kommt. In Windhoek, Dakar und Kampala wurden mit zwei Künstlerinnen und einem Künstler Kontakte für eine Zusammenarbeit geknüpft, um so Wege in die hegemonial-europäischen Wahrnehmungswelten zu bahnen. Die Wahl des Titels Wandala stellt in diesem Zusammenhang eine bewusste semantische Setzung dar, die zentrale Fragestellungen des Projekts in einem einzigen Begriff bündelt. Das Königreich Wandala geriet im Zuge der gewaltsamen Eingriffe kolonialer Expansion zunehmend in Vergessenheit – ein Schicksal, das exemplarisch für viele vormals souveräne afrikanische Herrschaftsgebiete steht, deren Geschichte durch die koloniale Überformung verdrängt oder fragmentiert wurde. Die Bezugnahme auf dieses historische Gebilde dient daher nicht allein der geografischen oder historiografischen Präzisierung, sondern fungiert als vielschichtige Metapher für ein Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Verdrängung, Selbstbehauptung und Fremdzuschreibung, Sichtbarkeit und Marginalisierung.

Wandala verweist damit auf eine doppelte Bewegung: Der Titel evoziert zum einen eine vormoderne afrikanische Ordnung, deren kulturelle Komplexität im westlichen Diskurs weitgehend ausgeblendet bleibt. Zum anderen dient er als symbolischer Bezugsrahmen für eine kritische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Formen kultureller Repräsentation. In diesem Sinne wird Wandala zum Signum eines dekolonialen Erkenntnisinteresses, das nicht nur an vergangene Größe erinnert, sondern auch auf die Persistenz struktureller Ausschlüsse verweist, wie sie sich bis heute in den globalen Machtverhältnissen und in medialen Bildern Afrikas niederschlagen.

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl die konzeptuelle Ausarbeitung als auch die kuratorische Realisierung des Projekts im institutionellen Kontext des OK in Linz durch einen westlich sozialisierten Kurator und Autor erfolgt ist, was verständlicherweise zu Ambivalenzen führt: Einerseits bringt das Sprechen über afrikanische Kontexte aus einer westlichen Position heraus stets die Gefahr einer erneuten Externalisierung mit sich. Andererseits bietet gerade die Reflexion dieser Ausgangsposition die Möglichkeit, bestehende hegemoniale Narrative sichtbar zu machen und kritisch zu unterlaufen. Die kuratorische Herangehensweise an das Projekts basiert dementsprechend auf einem selbstreflexiven, dialogisch orientierten Ansatz, der die eigene Verortung im globalen Wissensgefüge nicht verschweigt, sondern explizit thematisiert. Ziel ist es, einen Resonanzraum zu schaffen, in dem afrikanische Perspektiven nicht nur präsentiert, sondern als gleichberechtigte epistemische Stimmen innerhalb des damit initiierten Dialogs verhandelt werden können.

In diesem Sinne knüpft Wandala nicht nur an historische Überlieferungen afrikanischer Gesellschaften an, sondern schafft auch einen diskursiven Raum, in dem Fragen nach Repräsentation, Erinnerung und kultureller Selbstermächtigung neu gestellt werden können. Die Ausstellung begreift sich somit als Beitrag zu einem transkontinentalen Dialog über Geschichte, Macht und die Möglichkeiten einer kritischen Relektüre künstlerischer und historiografischer Narrative im Zeichen einer dekolonialen Praxis.

Namafu Amutse lebt und arbeitet in Windhoek. Die Hauptstadt Namibias ist bis heute von den Spuren der genozidalen Gewalt des deutschen Kaiserreichs und dem Befreiungskampf gegen das von 1960 bis 1989 währende südafrikanische Apartheidregime geprägt. Die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit verlangt nach einer gewissen Diskontinuität der dabei verwendeten Bildsprache – insbesondere, wenn es um den Körper als Symbol von Unterdrückung geht. Die Figur des afrikanischen Mannes wurde historisch im Wesentlichen auf zwei stereotype Rollen reduziert: entweder als versklavte Arbeitskraft ohne Eigenwillen oder als sexualisiertes Objekt der Begierde. Amutse bricht mit diesen einseitigen Darstellungen. In ihren fotografischen Arbeiten hinterfragt sie die unterdrückerischen Zuschreibungen und entwickelt neue, selbstbestimmte Perspektiven.

Auch der senegalesische Künstler Mbaye Diop, der in der Schweiz lebt, setzt sich mit der Ikonografie kolonialer Hinterlassenschaften und ihren Bruchstellen auseinander. Sein Fokus liegt dabei unter anderem auf Dakar, der pulsierenden Metropole seines westafrikanischen Herkunftslands, deren architektonisches Antlitz zwischen Tradition, fremdherrschaftlichem Erbe und moderner Überbauung zerrissen wirkt. Diop macht diese Konflikte sichtbar, indem er den eigenen Körper in sein Spiel der künstlerischen Widerrede einbringt. In einer der Performances schwingt er monoton einen Tennisschläger – eine physische Geste, die sich so lange wiederholt, bis sie beinahe schmerzhaft wirkt. Diese scheinbar banale Handlung wird zum Ausdruck der Erschöpfung, die aus dem steten Ringen mit dem gesellschaftlichen Wandel resultiert.

In einem Außenbezirk der ugandischen Hauptstadt Kampala lebt Olivia Mary Nantongo. Sie setzt ebenfalls ihren Körper ein, wie eine stets unvollendet bleibende Skulptur – um stichhaltige Notizen darauf festzuhalten, ihren zornigen Persönlichkeitsanteilen einen Austragungsort anzubieten und zugleich mit dem Facettenreichtum der eigenen Feminität zu experimentieren. Nantongo stellt sich nicht als Anschauungsobjekt zur Verfügung, wenn sie sich der traditionsreichen Bildsprachen der Baganda, eines ostafrikanischen Volkes, bedient. Sie bietet sich nicht dar, sondern löst sich in eigenwilligen Inszenierungen teils selbst auf: teils hingegen konterkariert sie mit starken Farbsetzungen die Gefälligkeitserwartungen exotisierender Konventionen. Die Künstlerin verhält sich ungehorsam, fügt sich nicht dem Kanon des Storytellings. Ihre ausdrucksstarken Arbeiten begeben sich vielmehr in ein Wechselspiel mit afrikanischen Realitäten, deren vielschichtigen Gegensätze und Konflikte in Geschichte, Gegenwart und Zukunft gerade auch durch künstlerische Ausbrüche produktiv gemacht werden müssen.

Wandala ist eine Mutmaßung. Im Zusammenhang der hier vorliegenden Ausgabe der springerin setzt sie auf die Hoffnung, dass Afrika in seiner Unfassbarkeit eine Art Ausbruch gelingt. Philon von Alexandria, geboren im Jahr 15 v. Chr., einer der großen Denker des hellenistischen Judentums, sah in der Unfassbarkeit eine Grundbedingung Gottes, des Menschen und der gesamten Schöpfung. Darin begründet sich auch die Notwendigkeit, sich jeglicher Trugbilder – noch dazu, wenn sie von kolonialer Hand gezeichnet sind – zu entledigen. An ihre Stelle tritt idealerweise eine Ermächtigung, eine dramaturgische Revolte, die mit neuen Bildwelten der Dekolonisierung das althergebrachte Gemäuer zum Einsturz bringt.

 

Literatur

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich – Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte; https://philotextes.info/spip/IMG/pdf/hegel_philosophie_der_geschichte.pdf.

Ludescher, Ladislaus – An den Rand gedrängt: Die mediale Marginalisierung Afrikas (2025); https://de.ejo-online.eu/top/an-den-rand-gedraengt-die-mediale-marginalisierung-afrikas.

Sall, E. H. Ibrahima – Archipele des Trügerischen, in: Peter Cichon/Reinhart Hosch/Fritz Peter Kirsch (Hg.), Der undankbare Kontinent? Afrikanische Antworten auf europäische Bevormundung. Hamburg 2010.

Obenga, Théophile – Ein Hauptgrund für die Leiden Afrikas: die eurozentrischen Afrikadeutungen, in: Peter Cichon/Reinhart Hosch/Fritz Peter Kirsch (Hg.), Der undankbare Kontinent? Afrikanische Antworten auf europäische Bevormundung. Hamburg 2010.