Es musste ein Wink des Himmels gewesen sein. Nachdem sich am 5. Mai 1984 im Stadttheater von Luxemburg der Vorhang endlich gehoben hatte, stand sie wie eine Erscheinung vor mir, von der ich an diesem Abend nicht mehr lassen wollte. Von Désirée Nosbusch, deren Anblick sich einen direkten Weg von der pompösen TV-Inszenierung in das adoleszente Gefühlsleben zu bahnen wusste. Gerade einmal 19 Jahre jung, mit verschmitztem Lächeln und engelhaftem Haar, war sie als Moderatorin des Eurovision Song Contest für mich schon zu Beginn die unumstrittene Siegerin. Der Auftritt, das bleibt vermutlich ewig unvergessen, vereinte sich mit dem Zeitgeist durch das industrielle Design der Bühne. Graues Kostüm, verhaltene Schulterpolster, rote Nylons, graue Pumps. Über diesem Ensemble ragte eine überdimensionale 4, die durch das wuchtige Rot auf grauem Hintergrund fast unfreiwillig komisch an den sozialistischen Realismus des frühen 20. Jahrhunderts erinnerte. Doch davon erfuhr ich erst viel später.
Unwesentliche Details konnten mir, der ich vor wenigen Wochen 13 Jahre alt geworden war, nicht in die Quere kommen. Auch nicht das raumfüllende Krachen der vielen Knabbereien, das schon wenige Minuten nach dem Übertragungseinstieg im Kreis der Familie abrupt zum Stillstand kam. Kleine Salzstangen klebten an meinen Lippen, als die Begrüßungsworte völlig unbekümmert und in bezaubernder Darbietung zwischen Deutsch, Englisch und Französisch wechselten. War das schulische Diktat zum Erlernen von Fremdsprachen vielleicht doch kein Missverständnis, das sich wie ein unnötiger Pickel an einem von Akne gepeinigten Schüler festgebissen hatte? Wie auch immer, Désirée Nosbusch ließ mich die Frage schnell wieder vergessen. Sie verkörperte für mich die Welt. Eine Welt, von der ich mich mit meinem Heranwachsen überzeugen durfte, dass sie sich allzu oft auch von ihren hässlichen Seiten zu erkennen gab. Und dann plötzlich das: “Wir begrüßen ebenso die vielen Zuseher aus der Sowjetunion – dobry wetscher und nastrovje!” Mein Vater erhob das Rotweinglas, bei geselliger Laune und in auffallend gerührter Zufriedenheit. Guten Abend und Prost!
Ich konnte nur rätseln, weshalb die völkerverbindende Geste diese für mich so unerwartete Regung des Familienoberhaupts zur Folge haben konnte. Die Konfliktkonstellationen des Kalten Krieges waren zu Hause eigentlich nie ein aufwühlendes Thema. Überhaupt stand das neutrale Österreich, näher konnte ich es zu dieser Zeit noch nicht ergründen, beim furchteinflößenden Muskelspiel der Supermächte außen vor. Dabei zählte die Unterscheidung zwischen Gut und Böse sehr wohl zu den Grundpfeilern meiner katholisch-christlichen Erziehung. Ebenso wie die Gebote der Nächstenliebe und der Vergebung. Aber wer unter den Streitparteien des globalen Säbelrasselns nun mehr Schuld auf sich geladen hatte, erschloss sich mir im eurovisionären Fernsehfieber nicht.
Meine Gedanken waren anderswo. Trotzdem wusste ich schon zu Beginn der 80er Jahre, dass meinem Vater als ÖVP-Gemeinderat die ehrenvolle Aufgabe übertragen war, maßgeblich am Aufbau des öffentlichen Zivilschutzes in der oberösterreichischen Kleinstadt Grieskirchen mitzuwirken. Im Alltag wurde darum nie ein großes Aufsehen gemacht. Zwar heulten jeden Samstag, Woche für Woche, Jahr für Jahr, pünktlich zu Mittag eine Minute lang die Sirenen, um neben deren Funktionstüchtigkeit auch die Aufmerksamkeit der Menschen auf Trab zu halten. Doch für uns Kinder tat sich damit weniger eine wie auch immer geartete Bedrohung über unseren Köpfen auf, als vielmehr der dezibelstarke Fingerzeig, unverzüglich am Esstisch zu erscheinen. Hier lauschte ich andächtig den mit geschliffener Zunge vorgetragenen Ausführungen meines Vaters, seinen Weltsichten und Urteilen über das Geschehen in Stadt und Land. Bruno Kreisky nahm dabei oft in unserer Mitte Platz. Als virtueller Gast, von dem ich vor allem bis zu seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt 1983 den Eindruck gewinnen musste, er habe die Menschen wie ein machtbeflissener Despot entzweit. Nicht selten steckte mir dann – von Rede und Widerrede hatte ich gerade einmal eine frühpubertäre Ahnung – der Fleischknödel im Hals. Und wenn einmal die über ganz Oberösterreich verstreute Verwandtschaft zugegen war, rückten wir noch näher an den Abgrund. In diesen Momenten türmten sich die Verwerfungen der zutiefst gespaltenen Gesellschaft wie ein Ungeheuer vor meiner Zukunft auf: Fristenlösung, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Reform der Schülermitverwaltung. Mein Vater, ein gut bürgerlich situierter Professor für Deutsch und Geschichte, musste sich in den Kreisky-Jahren fortwährend die Haare raufen. Vermutlich hatte auch er es als eine Genugtuung empfunden, als 1978 den Plänen zum Betrieb eines Atomkraftwerks in Zwentendorf eine deutliche Abfuhr erteilt worden war. Ob sich der Mehrheitsentscheid gegen eine Kernspaltung zur Energieversorgung ausschließlich aus der Sorge um den Erhalt unserer lebenswerten Umwelt speiste, darüber konnte ich zu dieser Zeit lediglich mutmaßen. Für meinen Bruder und mich stand ohnedies ein anderes Ergebnis im familiären Vordergrund: Zeigte der Vater sich zufrieden, war die Sache gut gelaufen!
Fanatismus gegenüber dem politischen Gegner fand in meiner Familie keinen Raum. Selbst dann nicht, wenn einmal ein polemisches Wort die Runde machte. In den Augen meines Vaters verlangte die ÖVP-Raison seinen Einsatz schon eher auf dem oft sperrigen Terrain der kommunalen Politik. Straßenbau, Müllwirtschaft, Kindergärten und Verfahren zur Betriebsansiedelung – auch in Grieskirchen hatte der Gestaltungsanspruch eines christlich-sozialen Gemeinderats die Mühen der Ebenen zu durchlaufen. Und so begab es sich, dass eines Tages die Atomgefahr den ganzen Wohnzimmertisch für sich in Anspruch nahm. Vor uns lagen plötzlich Pläne, wie ich sie schon einmal in TV-Berichten über Architekturvorhaben gesehen hatte. Aufriss, Grundriss und ein für mich unverständliches Zahlenwerk. Mein Vater wollte seinen Stolz nicht verbergen. Das war er also, der öffentliche Schutzbunker der Stadt, im Herzen des Bundesoberstufenrealgymnasiums. Gespannt folgte ich den Erläuterungen vor der Familie. Im Katastrophenfall – will heißen, sobald die nuklearen Waffenarsenale von NATO und Warschauer Pakt im Himmel über Grieskirchen aufeinanderprallten – hätte sich die Bevölkerung so rasch wie möglich in den mit massiven Stahltüren versehenen Kelleranlagen der Schule einzufinden. Dann müssten alle ein bisschen zusammenrücken, sich bei Notstromversorgung ruhig verhalten, mit Dosenfutter das Auslangen finden und sich vielleicht mit dem Erzählen von Witzen bei Laune halten, ohne allerdings den Sauerstoffgehalt in der Atemluft unnötig zu reduzieren. Nach einigen Tagen sei sicherlich alles vorbei – dann dürften wir auch wieder herzhaft lachen. Ich blickte zu meinem Vater empor, zunächst skeptisch, dann aber doch in großer Bewunderung: das Schicksal der Stadt lag also in seiner Hand!
Der Dritte Weltkrieg ließ unterdessen auf sich warten. Dabei hatte ich gerade einmal eine vage Ahnung, wie sich ein solcher in unserer ländlichen Geborgenheit überhaupt gestalten sollte. Meinen beiden Großvätern war – ihrer körperlichen Unvereinbarkeit mit den Idealen des wehrtüchtigen deutschen Mannes sei es gedankt – der verbrecherische Feldzug des NS-Regimes bis zu dessen Kapitulation erspart geblieben. Den Zweiten Weltkrieg kannten sie selbst vor allem aus der persönlichen Anschauung der alltäglichen Terrorherrschaft und der zunehmenden Verwüstung im nationalsozialistischen Hinterland. Besonders einprägsam waren für mich stets die Erzählungen meines Linzer Opas. Wie viele andere hatte auch er oft Tage und Nächte in den Luftschutzkellern zugebracht. Das Inferno sei den Menschen so sehr durch Mark und Bein gegangen, dass, so erfuhr ich mit großen Augen, die dröhnenden Bomber mit ihrer Tod und Verderben bringenden Fracht noch Jahrzehnte später in den Alpträumen immer und immer wieder zurückgekehrt sind. Die in der Familie gelegentlich zur Sprache gebrachten Geschehnisse an der “Heimatfront”, wie das Sterben in den Städten im nationalsozialistischen Propagandaton mit heroisierender Aufladung geheißen wurde, weckten in mir den emotional ambivalenten Drang, der Sache doch noch näher auf den Grund zu gehen. Denn wer in die österreichische Wohlfühlwelt der sozialstaatlich in Watte gepackten 1970er Jahre hineingeboren worden war, verspürte in Folge schnell mal eine gewisse Dissonanz bei dem Versuch, die zum Glück unbekannte Erfahrung von unermesslichem Leid, Verlusten und Zerstörung in den eigenen kognitiven Kosmos aus unbeschwerter Kindheit, Konsumlaune und friedliebendem Miteinander zu integrieren.
Von digitalen Recherchemöglichkeiten, die heutzutage durch die Allgegenwart unzähliger Internetanwendungen alleine schon in den Hosentaschen von Schulkindern zur Verfügung stehen, konnte zu Beginn der 1980er noch lange keine Rede sein. Ich durfte mich jedoch glücklich schätzen, dass mein Vater, der knapp ein Jahrzehnt zuvor an der Universität Wien mit einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit über die Meutereien der 1918 aus russischer Gefangenschaft heimkehrenden k.u.k. Armeen promoviert worden war, seinen professoralen Buchbestand im familiären Wohnzimmer mit jeder Menge auch zeitgeschichtlicher Literatur bestückte. Ein im Umfang faustbreiter Schmöker hatte es mir ganz besonders angetan, mit seiner, für meine kleinen Augen allemal wuchtigen Darstellung des letzten großen Krieges. Da waren sie dann also zu sehen – die Bomben, die das tödliche Unheil in die großen Städte brachten. Und auch die vielen verstaubten Uniformen, die kaum noch was vom mythenumwobenen Glanz der strammen und vermeintlich siegreichen Landser erkennen ließen. Dazu noch die schier unendlichen Weiten der Schauplätze des unfassbaren Schlachtens. Narvik, Dünkirchen, El Alamein, Sewastopol, Pearl Harbour, Stalingrad, Hiroshima. Für eine ganze Generation war zwischen 1939 und 1945 die Hölle auf Erden offenkundig zur Globalisierungsfalle ihres jungen Lebens geworden. Auf mehreren hundert Buchseiten lag sie dann also später vor mir. Mit zerfetzten Leibern, geschunden und verkrüppelt, in ihrem Menschsein völlig entrückt. Doch wie auch immer: Die der Nachwelt überlieferten fotografischen Eindrücke wirkten auf mich wie eingefroren, gleich einem in Schwarz-weiß erstarrten Firn. Das machte die Gewalt der Bebilderung des Grauens irgendwie faszinierend – und so unwirklich zugleich. Wohl um mir in meiner frühjugendlichen Verwirrung irgendwie Abhilfe zu verschaffen, notierte ich mit nachdrücklicher Wirkung in meinem Kopf, was ich in meinem Umfeld immer wieder einmal zu hören bekam: “Es ist nie gut, wenn Eltern ihre Kinder überleben.”
Inzwischen lief der Alltag in seinen gewohnten Bahnen – oder noch besser: Die Konventionen zur Unbekümmertheit in und um Grieskirchen ließen sich durch nichts und gar nichts aus den Angeln heben. So machte auch ich mir keine großen Gedanken, wenn ich als Ministrant in den Jahren 1979 bis 1982 bei unzähligen Beerdigungen am städtischen Friedhof neben dem Herrn Pfarrer am Rande der Gräber stand, wo sich doch sehr häufig eine ganze Menge älterer Männer mit seltsamen Schnauzbärten über der Oberlippe und dem Eisernen Kreuz an der dunkelbraunen Uniformjacke des trauernden Ensembles bemächtigte. Mir war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bewusst, was es mit dem Kameradschaftsbund eigentlich auf sich hat. In der Stadt selbst herrschte darüber weitgehendes Schweigen. Ohrenbetäubend knallte jedoch auch mir immer wieder die Böllerkanone ins Ohr, die dem Messdiener mit seinen, von der harten Schaufelarbeit zerfurchten Händen dazu diente, einen Salutschuss abzufeuern, um den ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht oder gar der noch kriminelleren Waffen-SS die letzte Ehre zu erweisen. Der Krieg, so ging mir damals in meiner kindlichen Naivität nicht selten durch den Kopf, findet also gesellschaftliche Anerkennung – und das mit einem donnernden Lärm, der auch nur dem geringsten Zweifel daran einen, im wahrsten Sinne des Wortes, unüberhörbaren Schuss vor den Bug erteilte. Wer daraufhin mit dröhnendem Kopf den Friedhof wieder verließ, wurde schon im Stadtzentrum durch die in Marmorstein gehauene Heldenverehrung der gefallenen Soldaten erneut daran gemahnt: Unsere Ehre heißt Treue – alles andere ist Verrat am Vaterland!
Doch zu dieser Zeit erlitt das beschauliche Dasein in der Idylle des heimatlichen Brauchtums und der gottesfürchtigen Gepflogenheiten erste Störfeuer aus der großen weiten Welt. Nach langen Jahren des Verzichts hatte 1978, also kurz vor Austragung der Fußball-WM in Argentinien, doch noch ein TV-Empfangsgerät in unser familiäres Wohnzimmer Einzug gehalten. Die Nähe Grieskirchens zur deutschen Grenze machte es schon zu diesem Zeitpunkt möglich, auf terrestrischem Wege auch das Fernsehprogramm der großen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus dem Nachbarland zu empfangen. Damit entwickelte sich die Primetime zu einer regelrechten Institution – vor allem im Zeitfenster von 19.00 bis 20.00 Uhr. Den Auftakt machte bei uns durchwegs die Tagesschau auf ARD, der ich gegenüber der Zeit im Bild, dem damals noch auf ORF 1 und ORF 2 durchgeschalteten Nachrichtenformat eine halbe Stunde später, eindeutig den Vorzug gab. Für mich, dem sich die internationalen Ereignisse und Konflikte in ihren komplexen Zusammenhängen einfach noch nicht erschließen wollten, stand somit der Blickkontakt im Vordergrund. Und was durfte ich mich freuen, wenn Dagmar Berghoff, die allererste Fernsehsprecherin im westdeutschen Informationsprogramm, mir seit dem Ende der 1970er Jahre am Bildschirm entgegen lächelte. Das blonde Haar, der Augenaufschlag sowie die verzaubernden Mundwinkel ließen mich doch darüber hinwegsehen, dass zu dieser Zeit die News aus dem ARD-Studio noch vom Blatt gelesen werden mussten. Genau das aber, so dachte ich, machte die Beziehung zu meiner Hauptakteurin so ganz besonders. Das kurze Aufblicken zwischen dem fehlerfreien Vortragen des Textes gehörte immer ganz alleine mir.
Irgendwann aber machte diese Form des Auftretens vor der Kamera auch für mich den Anschein, als suche Dagmar Berghoff eine gewisse Distanz zu genau jenen Realitäten, die sie selbst einem Millionenpublikum unverrückbar vor Augen führte. Doch vielleicht lag es auch nur einfach daran, dass das ausgestrahlte Weltgeschehen eigentlich doch nur zum Verkriechen war. Jedenfalls zeichnete das tägliche Nachrichtenaufgebot mir, meinem Bruder Michael und den Eltern, ein tatsächlich doch sehr düsteres Bild von unserem Planeten. Hungersnöte in Afrika, der Terror in Deutschland durch die Rote Armee Fraktion, das Waldsterben, der heimtückische Mordanschlag auf den Wiener Stadtrat Heinz Nittel, die neue tödliche Krankheit AIDS – und schließlich die vielen darüber hinausreichenden militärischen Konflikte, die meine jugendliche Verwirrung bei der Konfrontation mit Krieg schier ausweglos erscheinen ließen.
Unweigerlich bleibt wohl die Ikonographie der damaligen Fernsehübertragungen in ewiger Erinnerung. Dazu zählten die gigantischen Kanonen, die – zum Teil auch aus österreichischer Produktion – von 1980 bis 1988 irgendwo im Wüstensand entlang der Grenze von Iran und Irak in einer völlig sinnlosen Auseinandersetzung auch Giftgas auf die vielen namenlosen Väter, Brüder und Söhne feuerten. Aber auch völlig erschöpfte Mudschaheddin, die bis zum sowjetischen Abzug 1989 in den afghanischen Bergen mit ihren Flinten auf gegnerische Kampfhubschrauber ballerten. Und dann waren da noch die senkrechtstartenden Harrier-Düsenjäger und Hightech-Schlachtschiffe der britischen Streitkräfte, auf denen tausende junge Männer von ihren Frauen und Geliebten beim Abschied auf dem Weg zur Zurückgewinnung der völlig bedeutungslosen Falklandinseln frenetisch umjubelt wurden. Nach dem blutigen Waffengang gegen Argentinien im Zeitraum von April bis Juni 1982 kehrten immerhin mehr als 250 Soldaten tot und nochmals so viele verwundet in das Vereinigte Königreich zurück.
Zu diesem Zeitpunkt wusste Premierministerin Margaret Thatcher den kriegerischen Erfolg am anderen Ende der Welt für ihre innenpolitischen Umbauarbeiten zu nutzen. “Es gibt keine Alternative!” Der giftige Sager der Eisernen Lady wurde fortan wie ein globales Lauffeuer zum Mantra einer rücksichtslosen Zerstörung der öffentlichen Infrastrukturen, des Gesundheitswesens sowie der Sozialsysteme zur völligen Entfesselung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung. Es wollte noch nicht in meinen kleinen Kopf, warum auf den TV-Bildschirmen immer wieder englische Polizisten mit ihren – auf mich lustig wirkenden – schwarzen Gurkenhelmen wie verrückt auf verrußte Bergarbeiter einprügelten. Gelegentlich schnappte ich von meiner, aus dem deutschen Ruhrpott stammenden Großmutter die etwas verstohlen zum Ausdruck gebrachte Zustimmung auf, dass dem, wie sie stets zu sagen pflegte, “roten Gesocks” nur so das Böse auszutreiben sei. Ähnlich dachte ganz offensichtlich auch ein Westernheld aus der Traumfabrik von Hollywood, der es 1981 doch tatsächlich an die Spitze der Vereinigten Staaten von Amerika schaffte.
US-Präsident Ronald Reagan sollte es schließlich auch sein, der das weitere Schicksal des Erdballs ein ganzes Jahrzehnt lang wie ein rohes Ei in seinen Händen hielt. Ganz plötzlich erfuhr meine jugendliche Auseinandersetzung mit Krieg eine neue, ja geradezu extraterrestrische Dimension. Mit der so genannten Strategischen Verteidigungsinitiative, kurz SDI genannt, ordnete Reagan im März 1983 die Errichtung eines gigantischen Abwehrschirms gegen feindliche Interkontinentalraketen an. Das befeuerte nicht nur den Ost-West-Konflikt, der in Folge endgültig zu eskalieren drohte, sondern auch eine hyperaktive Fiktionalität mit der Illusion, der sich rasanten Schrittes nähernde Wahnsinn ließe sich – gleich wie das Gefühlschaos der eigenen Angststörungen – durch ein Hightech-Phantasma irgendwie entschärfen.
Und dann kam der Tag. Der Tag danach, um ganz genau zu sein. Es muss in der zweiten Jahreshälfte 1984 gewesen sein. Schon das etwas lieblos an die Glasvitrine des städtischen Kinos geklebte Filmankündigungsplakat mit dem infernal in den Himmel ragenden Feuerball zog mich in den Bann. Nun stand also die nukleare Apokalypse auch in Grieskirchen auf dem Programm. Ich war durchaus verängstigt, was mich da letztlich erwarten könnte, aber die Antriebskraft der eigenen Neugierde war durch nichts einzudämmen. Mit einem Mal, so die augenblickliche Offenbarung, wurde der Fiktion auch mir gegenüber die Maske entrissen. Wie trügerisch diese sich tatsächlich erweisen sollte, wurde mir dann wenige Tage später schmerzlich bewusst. Da saß ich dann, vermutlich an einem Sonntagnachmittag, mit meinen 13 Jahren auf dem hölzernen, an der Unterseite mit Kaugummis verklebten Kinostuhl – und hatte mit einem Mal den Dritten Weltkrieg vor den weit aufgesperrten Augen.
So starrte ich also auf die Leinwand und fühlte mich zunächst schon alleine deshalb sehr berührt, weil ich durch die Eindrücke auch meine jungen Alltagserfahrungen teilweise abgebildet glaubte. Das urbane Flair der Universitätsstadt Lawrence unweit von Kansas City, die Idylle der ländlichen und von Traditionen geprägten Umgebung, die unbeschwerte Jugend zwischen wohliger Nestwärme und der allmählichen Loslösung aus der elterlichen Umarmung. Von der Weltpolitik hatte ich, wie bereits erwähnt, noch keine große Ahnung. Somit erzeugten die im Film gehäuft auftretenden Negativschlagzeilen in Rundfunk und Presse eher ein disharmonisches Rauschen im Kopf, das bei der Vorführung immer lauter und bedrohlicher wurde. Mit sowjetischer Unterstützung seien Truppen der DDR nach einer mehrtägigen Blockade Berlins erstmals auch auf westdeutsches Territorium vorgedrungen. Das klang selbst in meinen Ohren allemal beunruhigend. Aber dann ließ ein klug anmutender Hauptdarsteller im Hinblick auf die amerikanische Beistandsverpflichtung das Publikum endlich wissen: “Warum sollten wir Chicago für Hamburg opfern?”
Doch allen Hoffnungen zum Trotz ist der Kalte Krieg aufgrund der fatalen Drohgebärden aus Ost und West in seine heiße Phase getreten, mit einer Dynamik, die mir fast den Atem raubte. Denn in der Erzählfolge ging plötzlich alles Schlag auf Schlag. Bomben auf Würzburg, Hochzeitsvorbereitungen mit der Angst im Nacken, das Zittern beim Einflechten der Lockenwickler, Moskau wurde evakuiert, Hamsterkäufe, das beschauliche Leben schlug in höchste Alarmbereitschaft um. Und dann war es soweit. Die zahlreichen Raketensilos, die sich von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet auf den grünen und saftigen Wiesen und Äckern in die Erde bohrten, spien plötzlich ihre tödlichen Innereien in den Himmel, die aus der Ferne, etwa mit Blick aus dem Football-Stadion von Lawrence, wie bei einem Feuerwerk auch ganz rasch wieder im Nichts verschwanden. “Die sind unterwegs nach Russland”, sprach ein junger Wissenschaftler wie benommen im Kreise seiner Kollegen, “sie brauchen etwa 30 Minuten, bis sie am Ziel sind. Aber ihre natürlich auch.” Dann beherrschte Panik das weitere Geschehen, anonyme Menschenmassen liefen, wie bei einer ausweglosen Flucht, durch die Straßen, Familienväter zwangen Frauen und Kinder in den Luftschutzraum – und schließlich verharrte ein weißes Pferd auf offenem Feld, so als könnte es erahnen, dass das jähe Ende unaufhaltsam naht. Und genau dieses ließ auch nicht lange auf sich warten. Ein gleißender Höllensturm nach dem anderen zerriss nach nur wenigen Sekunden den Horizont, gefolgt von einem schmerzhaft markerschütternden Lärm der Verwüstung.
Das Vernichtungswerk zehrte unbarmherzig an meinen Nerven. Besonders nahe ging mir dann noch der tragische Umstand, dass just aus der Verehelichung von Denise und Bruce, dem für die frühen 1980er Jahre so paradigmatisch draufgängerischen Paar, nichts mehr werden sollte. “Wir müssen uns daran gewöhnen”, nahm der Farmer seine Tochter im verdunkelten Keller tröstend in den Arm, “dass Vieles anders wird. Die Hauptsache ist doch, dass wir leben und zusammen sind.” Doch die zum großen Teil jungen Menschen im Lichtspieltheater blieben keineswegs verschont. Auf den nuklearen Donner folgte nämlich der radioaktive Niederschlag. Die gesamte Infrastruktur lag in Trümmern, die Spitäler waren heillos überlaufen, und die Menschen wankten umher wie Zombies, die völlig unvermittelt auf eine bislang unbekannte postapokalyptische Barbarei zusteuerten. Unter diesen Aussichten wurde dann auch noch ein Baby geboren, während der namentlich nicht genannte US-Präsident zum Durchhalten aufrief, zumal die geeinte Nation auch weiterhin ihre Freiheit zu verteidigen wisse und deshalb auch niemals zur Kapitulation zu zwingen sei. Als schließlich die letzten Meter der Filmrollen durch den überalterten Projektor ratterten, blieb ungeachtet des völligen Untergangs ein irgendwie heroisch anmutendes Finale übrig – allerdings verzweifelt und ganz ohne Happy End.
Auf dem Weg nach Hause musste sich mein Gehirn wohl abgeschaltet haben, denn in der Kiste der persönlichen Erinnerungen ist dazu nichts mehr auszuheben. Mein Alltag von damals hält mir bis heute ganz viele andere Aufregungen bereit, die durchwegs in keinerlei Zusammenhang mit dem auf Zelluloid gebannten Showdown des globalen Wettrüstens einzuordnen sind. Und selbst wenn dann einmal im Pfarrsaal der kleinen Stadtgemeinde Grieskirchen beim diskoähnlichen Fünfuhrtee die jugendliche Hemmschwelle überwunden war, um ein Mädchen zum nächsten Tanz zu bitten, so musste beim Evergreen Forever young der deutschen Popband Alphaville der deprimierende Gestus zu Beginn des Songs dem unbekümmert beschwingten Liebeswerben weichen: “Lass uns mit Stil tanzen, lass uns eine Weile tanzen, der Himmel kann warten, wir blicken nur in die Luft, hoffen das Beste, erwarten aber das Schlimmste. Werdet ihr die Bombe werfen, oder nicht?” Erst viel später, im Zuge meiner, von historischem Interesse getragenen Recherchen konnte ich das Phänomen vom Tag nach Der Tag danach für mich eingehender ergründen. Selbst in den USA wurden im Hinblick auf die absehbaren psycho-emotionalen Nöte nach der TV-Erstausstrahlung landesweit Hotlines eingerichtet, um den vielen aufgewühlten Menschen allenfalls mit einem fachkundigem Gespräch beistehen zu können. Doch siehe da – das öffentliche Service wurde so gut wie nicht genutzt. Während vor allem die veröffentlichte Meinung in den Zeitungen mutmaßte, der Film hätte patriotische Gefühle gestört und deshalb auch eine breite Ablehnung ausgelöst, entschied sich die psychologische Expertise für eine andere Erklärung. Der Horror, mit dem der Film die Zuschauenden so schonungslos überfällt, erzeuge eine Abwehrreaktion, die fortan als Psychic Numbing bezeichnet wurde – sozusagen als eine Narkotisierung der Seele, die vermeiden will, sich mit dem Grauen, dem sie ausgesetzt ist, auch wirklich zu konfrontieren.
Für mich hatte der Dritte Weltkrieg dennoch erstmals ein Gesicht. Der schon bisher reiche Fundus der Fiktionen in der postapokalyptischen Bildproduktion wurde – wie auch im fast zeitgleich erschienenen britischen Streifen Threads – um eine auf brutale Realitäten bedachte Veranschaulichung erweitert. Damit sollte auch den Uneinsichtigen ein für allemal klar gemacht werden, dass dem nuklearen Winter kein Frühling mit duftenden Blumenwiesen folgen wird. Nach Erscheinen von Ronald Reagans Autobiographie machte auch die Mitteilung die Runde, dass Der Tag danach beim damaligen US-Präsidenten eine depressive Verstimmung verursacht haben soll. Inwieweit er sich als westlicher Scharfmacher des Kalten Krieges tatsächlich davon beeindrucken ließ, ist nicht näher dokumentiert. Seine zweite Amtszeit war jedenfalls von leichtem Tauwetter und mehr Gesprächsbereitschaft gegenüber der UdSSR geprägt, die am 8. Dezember 1987 sicherlich einen Höhepunkt erfahren durfte. An diesem Tag unterzeichnete Ronald Reagan gemeinsam mit dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschov das Washingtoner Abkommen über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag), das die Vernichtung aller Flugkörper mit mittlerer und kürzerer Reichweite sowie deren Produktionsverbot zum Inhalt hatte.
Unterdessen ist auch mein Wahrnehmungskosmos in Grieskirchen allmählich in den Sog des globalen Zeitenlaufs geraten. Der amerikanische Kulturimport schlug sich zunehmend im umfassender werdenden TV-Angebot nieder, Cindy Lauper und Madonna waren mit einem Mal cooler als Wolfgang Ambros und Georg Danzer, Hollywoodstar Sylvester Stallone brachte im Boxkampf des Jahrhunderts den russischen Hünen Ivan Drago zu Fall, und auch das rot-weiß-rote Credo von Mehr privat, weniger Staat ließ sich immer deutlicher von den ökonomischen Heilsversprechungen leiten, die in diesem Jahrzehnt unter den Schlagworten Thatcherismus und Reaganomics einen unglaublichen Konjunkturaufschwung erzielen konnten.
Zugleich machte ich mir auch keine großen Gedanken mehr, ob mein Vater im städtischen Schutzraum nun ausreichend für Lebensmittelkonserven gesorgt hatte. Das atomare Zeitalter verschob sich für mich in ein verführerisches System aus Codes und Zeichen, dem ich viel eher meine pubertäre Aufmerksamkeit schenken wollte. Eine Vielzahl boulevardesker Printerzeugnisse versetzte mich – und mit mir, so vermutete ich, das gesamte Universum – in den Glauben, dass insbesondere Sexbomben mit Atombusen nicht nur als die vielleicht begehrenswerteste, sondern auch gefährlichste Verkörperung der Weiblichkeit zu betrachten sind. Das Gerede von den Waffen der Frau ließ mich zwar meist völlig rat- und ahnungslos zurück, deutete aber bereits an, dass sich mit den ersten neoliberalen Lüftchen in der heimatlichen Beschaulichkeit auch Geschlechterkonflikte abzeichneten, die in meinem Umfeld vor allem die Sehnsucht nach individueller Eigenständigkeit sowie das monetäre Unabhängigkeitsbedürfnis einer immer größer werden Anzahl von Mädchen und jungen Frauen zu diffamieren suchten. Doch die Sprengmetaphern und ihre Vorzeichen auf die kommenden Verwerfungen und Umbrüche im gesellschaftlichen Gefüge konnten mich in meiner jugendlichen Blase nicht beirren. Mitunter genügte auch nur ein Gedanke an Desirée Nosbusch – und schon war die von atomarer Endzeitstimmung geplagte Welt für mich auch wieder in Ordnung.
Editorial
Vor dem großen Sterben.
Oder wie unser aller Zuversicht das Ende der Zukunft überdauerte
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Bibliographische Angaben