Vor dem großen Sterben

Oder wie unser aller Zuversicht das Ende der Zukunft überdauerte

“Candide”, so brachte Voltaire 1759 in einer unter Pseudonym verfassten Novelle zu Papier, “ganz ein Raub der Angst und des Schreckens, an jedem Gliede zitternd und blutrünstig, sagte bei sich selbst: Ist das die beste aller möglichen Welten, nun so möcht’ ich die übrigen sehn!” Das über weite Strecken satirische Werk des großen französischen Philosophen stellt des Menschen Zuversicht auf eine unentwegte Probe – sei es durch die biblisch anmutende Vertreibung aus dem Paradies, durch schier unmögliche Verkettungen von Unglücken und Katastrophen, an allen nur erdenkbaren Schauplätzen dieser Welt.

Candide oder der Optimismus besticht durch die Zeitlosigkeit des Zweifelns. Voltaire ließ in der düsteren Erzählung den unverbesserlichen Menschen in der Banalität des Alltags seinen Ausweg finden und landete damit einen überwältigenden Erfolg. Mehr als zwei Jahrhunderte später kann die Erzählung durchaus auf eine Generation übertragen werden, die im Österreich der 80er Jahre in ihrer Sehnsucht nach der besten aller Welten nur wenig Hoffnung schöpfen durfte. No future kennzeichnete nicht nur die radikale Auflehnung der frühen Punkbewegung gegen das gesellschaftliche Establishment der Nachkriegszeit und deren kapitalistische Werteordnung. Der Slogan fand auch weltweit Ausdruck in der Verzweiflung einer Vielzahl junger Menschen im Angesicht einer Bedrohung, die der Menschheit eine in ihrer Geschichte noch nicht dagewesene kollektive Furcht bescherte – die Angst vor dem großen Sterben durch die Atomgefahr.

Und tatsächlich: Das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs andauernde Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion erreichte in den 80er Jahren immer größere Dimensionen und machte das Schicksal des gesamten Planeten zum unberechenbaren Poker der Nuklearstreitmächte. Während jedoch mit dem Gleichgewicht des Schreckens die apokalyptische Vorstellung von der militärischen Selbstauslöschung der Menschheit bis zuletzt ein angstbesetztes Szenario geblieben ist, wurde die tödliche Tragweite der Kernspaltung zum zivilen Zwecke der Energiegewinnung mit der Katastrophe von Tschernobyl 1986 erstmals grenzüberschreitend zur bitteren Wirklichkeit. Das Reaktorunglück setzte eine radioaktive Wolke über Mitteleuropa frei – und damit auch eine neue Dynamik in der Untergangsrhetorik des Ost-West-Konflikts.

Der Weltuntergang verfügt – und dafür sind nicht unbedingt alttestamentarische Kenntnisse erforderlich –  seit Menschengedenken über eine tief verinnerlichte kulturelle Wirkung, die sich im Kalten Krieg und vor dem Hintergrund eines rasanten technologischen Fortschritts ganz besonders verhängnisvoll entfalten konnte. Den nahenden Strahlentod stets vor Augen, prägten hilfloses Entsetzen und ausweglose Ohnmacht sowie die daraus resultierenden Friedens- und Anti-Atom-Proteste die Erfahrungen einer Jugend, deren Zuversicht in die Zukunft sich ebenso verdüsterte wie der Erdball in dem von Film- und Medienindustrie profitabel fiktionalisierten nuklearen Winter. Der 1983 von Nicholas Meyer in Szene gesetzte Streifen Der Tag danach markierte wie keine andere Hollywood-Produktion eine Wende in der Darstellung des atomaren Schlagabtauschs, dessen Ausmaß eines Overkills schon kurze Zeit später auch im europäischen Kino zu sehen war. Die weitgehend realistische Veranschaulichung des Dritten Weltkriegs erreichte somit erstmals die Massen –  und schrieb sich tief in das Gedächtnis des damals jungen Publikums ein.

“Das Bewusstsein”, schrieb Max Frisch zu dieser Zeit in seinen Entwürfen zu einem dritten Tagebuch, “dass es mit unserer Zivilisation bald einmal zu Ende sein könnte – wirklich verdrängen können dieses Bewusstsein nur Schwangere und Politiker.” Was beim namhaften Schriftsteller zugleich eine tiefe Sorge nach sich zog: “Zukunft über die eigene Person hinaus ist für die meisten kaum noch eine verbindliche Kategorie.” Von großer Beunruhigung war 1988 auch ein Buchprojekt getragen, das sich der Angst unserer Kinder im Atomzeitalter widmete. “Bei den um die ökologische Zukunft fürchtenden Jugendlichen”, notierte das psychotherapeutische Autorenpaar Renate und Gerd Biermann ein Jahr vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, “kommt es zu Werteverlust und Zynismus, wenn sie bei Eltern und Lehrern, ihren erzieherischen Vorbildern, erleben müssen, dass sie kommentarlos den möglichen Tod von Millionen Menschen im atomaren Ernstfall zur Kenntnis nehmen”. Und noch weiter: “Das Verleugnen und Verdrängen zukünftiger atomarer Katastrophen verstärkt den Generationskonflikt.”

Ungeachtet der dazu angebrachten Skepsis gerieten also in der andauernden Verunsicherung des Kalten Krieges auch die Fundamente von wechselseitigem Vertrauen und dem einvernehmlichen Miteinander innerhalb der westlichen Gesellschaften immer mehr ins Wanken. Für Österreich ergaben die internationalen Untersuchungen, dass 30,25 Prozent der befragten Jugendlichen den Film Der Tag danach gesehen hatten. Die Frage, ob nach einem Atomkrieg das Dasein noch lebenswert sei, beantworteten 78,31 Prozent mit einem klaren Nein. Was wiederum zu dem Umkehrschluss führte, dass sich 83,17 Prozent überzeugt zeigten, der aktive Einsatz für Frieden lohne sich allemal. Jahrzehnte später stechen bei der historischen Einordnung in diesem Zusammenhang vor allem auch die sozio-ökonomischen Veränderungen dieser Epoche ins Auge, die im Zuge der zunehmenden Auflösung der sozialen Wohlfahrtsysteme und dem Vormarsch der neoliberalen Idee in Staat und Wirtschaft auch in einem kulturellen Paradigmenwechsel zum Ausdruck kamen. “Die Todesangst der achtziger Jahre half sehr dabei”, schrieb Jörg Sundermeier im August 2016 folgerichtig in der Jungle World, “die Gesellschaft in eine Ansammlung von selbstsüchtigen Einzelkämpfern zu verwandeln, denen ihr eigener Arsch wichtiger ist als ihr Kopf.”

Aber wie auch immer – der Weltuntergang fand in den 80er Jahren seine ganz eigene, der Hightech-Ästhetik entsprechende Aktualität, die vor allem mit der so entrückten Bedrohung immer wieder Stoff für multimediale Inszenierungen und auch philosophische Reflexionen bot. Jacques Derrida zählte etwa zu jenen, die einzig in künstlerischen Ausdrucksformen wie dem Film die Möglichkeit sahen, das Ende der Welt mit der Überzeugungskraft der Simulation stattfinden zu lassen. Die atomare Apokalypse selbst könne gar nicht zu einem realen Ereignis werden, weil, so notierte der poststrukturalistische Denker, kein Publikum mehr da wäre, um es zu einem solchen zu machen. Die große Nachfrage blieb also auch weiterhin aufrecht, was wiederum auf Der Tag danach noch zahlreiche filmische Darstellungsversuche folgen ließ.

Während der österreichische Philosoph und Schriftsteller Günther Anders bereits seine umfangreichen Überlegungen zum Prometheischen Gefälle, also der Unvollkommenheit des Menschen gegenüber der Perfektion der Maschinen, literarisch zu ordnen begann, hatten zehn Jugendliche der 80er Jahre für die Zivilisations- und Technikkritik ihrer Zeit noch eher wenig übrig. Als Autorinnen und Autoren der Geburtsjahrgänge 1965 bis 1972 erzählen sie in Mit strahlenden Augen von einer vom nuklearen Alptraum geplagten Epoche, deren soziale und kulturelle Wirkung in der Erforschung des Kalten Krieges bisher nur unzureichend Beachtung gefunden hat. Jedenfalls haben sie alle die Ausläufer des Kalten Krieges sehr unterschiedlich erlebt und mussten, ja fast in Anlehnung an den ungestümen Candide bei Voltaire, auch für sich Auswege in einem Alltag suchen, in dem sich Träume und Wunschvorstellungen nicht beirren lassen durften, um die Zuversicht auf ein gutes Leben über das allgegenwärtige Ende der Zukunft hinwegzuheben.

“Heute hat sich das depressive Lebensgefühl der 80er-Jahre längst verflüchtigt”, schrieb Rudolph Herzog 2012 in seinem Buch Der verstrahlte Westernheld und anderer Irrsinn aus dem Atomzeitalter. “Die Verwerfungen des Kalten Krieges wurden nahezu vergessen. Auch die Angst vor dem Atomkrieg und die Endzeitstimmung dieser Epoche lassen sich kaum noch in Erinnerung rufen.” Mit strahlenden Augen widersetzt sich diesem Vergessen und hält am universellen Postulat eines friedlichen Zusammenlebens in globaler Gleichheit aller Menschen fest. Die Notwendigkeit hat schließlich nichts an ihrer Bedeutung eingebüßt. Aus diesem Grunde kann es eigentlich auch kein Zufall sein, dass fast zeitgleich mit dem Erscheinen dieses Buches eine Kampagne für das weltweite Verbot von Atomwaffen den Friedensnobelpreis 2017 entgegennehmen durfte.

 

Inhaltsverzeichnis

Martin Wassermair
Vor dem großen Sterben.
Oder wie unser aller Zuversicht das Ende der Zukunft überdauerte.

Sonja Ablinger
Reichweiten, Garnpullover und eine Rede von Johanna Dohnal

Verena Langegger
No Future zwischen Goldenem Dachl und Bastelbude, oder: Warum es nichts zu lachen gab.

Christina Nemec
Raus! Nichts wie raus!

Lena Doppel
Von Walkmen, Pongs, C64ern, Eliza, dem Vierteltelefon und anderen Wundermaschinen

Corinna Milborn
Alpenjugend mit Tschernobyl

Martin Wassermair
Narkotisierte Seelen.
Jugenderinnerungen an den Dritten Weltkrieg.

Michel Reimon
Am Eisernen Vorhang

Dorota Aleksandra Trepczyk
Hände hoch im Plattenbau!
Das Heranwachsen in Polen zwischen Atomkraft und dem Wilden Westen

Hikmet Kayahan
Von der Kunst, Stoffwindeln, Spinat und Tschernobyl zu überleben

Ronald H. Tuschl
May the Force be with us!
Die klassische Star Wars-Trilogie als Jugendmotiv, Kultfilm und Spiegelbild des Atomzeitalters.

Das Buch ist im Buchhandel (z.B. Buchhandlung Alex) sowie auf Amazon erhältlich.

Bibliographische Angaben

Martin Wassermair (Hg.)
Mit strahlenden Augen. Jugend der 80er Jahre und die atomare Endzeitstimmung des Kalten Krieges, Löcker Verlag (2017)
12,5 x 20,5 cm
Broschur
164 Seiten
€ 19,80
ISBN 978-3-85409-660-3