Faces of the Evil. Faces of the Good.

9/11 als geschichtspolitische Herausforderung

Wer schon heute darüber rätselt, was vom 11. September 2011 zu erwarten ist, hat vorerst nur eine Gewissheit. Oprah Winfrey kündigte vor kurzem an, ihre seit mehr als zwei Jahrzehnten erfolgreiche TV-Show an genau diesem Tag für immer zu beenden. Die Talkmasterin verspricht einen spektakulären Schlussstrich für ein beachtliches Kapitel Mediengeschichte. Überhaupt wird Geschichte an diesem denkwürdigen Tag einen großen medialen Raum einnehmen. Die Debatte, welche historische Erzählung anlässlich des zehnten Jahrestags der Anschläge auf das World Trade Center in New York die Tageszeitungen und die zahlreichen News-Channel durchfluten wird, ist allerdings jetzt so richtig eröffnet und wirft ein interessantes Licht auf die Administration Barack Obamas sowie vor allem auf deren Anstrengungen, auch auf dem Terrain der Erinnerungspolitik die Ära George W. Bushs mit einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel abzulösen.

Tatsächlich machen die regelmäßig wiederkehrenden Feierlichkeiten am 11. September deutlich, dass nationale Mythen keineswegs in ewiges Gestein gemeißelt sind. Noch am frühen Morgen des Gedenktages 2009 versuchte New Yorks populistischer Bürgermeister Bloomberg, in den FOX News mit patriotischen Evergreens die Richtung vorzugeben: “9/11 war mit seinen 3.000 Toten der Weckruf der Nation. Wir leben nicht isoliert vom Rest der Welt, sondern müssen immer aufs Neue für unsere Freiheit kämpfen.” Der Lokalaugenschein am Ground Zero relativiert die Stimmungsmache allerdings. Für einen geradezu sinnbildlichen Eindruck sorgte hier einmal mehr Paul Isaac. Der Feuerwehrmann stand, wie auch schon in den Jahren zuvor, mit seiner wuchtigen “Flag of Heroes” am Rande der Sperrzone und trotzte damit nicht nur sehr einsam der schlechten Witterung, sondern auch einer aktivistischen Gruppe, die sich mit dem Slogan “9/11 was an inside job!” unbeirrt gegen die öffentliche Meinung stellt. Doch die Doktrin, mit dem Angriff auf die beiden Zwillingstürme sei die US-amerikanische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit einem hochkomplexen Terrornetzwerk zum Opfer gefallen, dem nur mit Krieg beizukommen ist, zeigt erste Brüche.

Zunächst fällt auf, dass sich seit der Präsidentschaft Barack Obamas eine signifikante Verschiebung in der Deutung und symbolischen Nachnutzung der Ereignisse von 9/11 bemerkbar macht. War noch unter der republikanischen Dominanz jede innen- sowie auch außenpolitische Interpretation mit dem Etikett “Security” versehen, so zeichnet sich bereits seit Jahresbeginn 2009 eine Neuorientierung in Richtung “Service” ab. Mit der Folgewirkung, dass die heroische Ikonographie der US-Marines an den vielen Fronten der Welt dem Bild des Rechtsanwalts, der sein Leben als couragierter “Firefighter” geopfert hat, sukzessive weichen muss. Damit machen die politischen Gegensätze, deren Konturen mit dem Machtwechsel an der Spitze des Staats schärfer geworden sind, auch vor der historischen Auseinandersetzung nicht mehr Halt. Für eine nationale Mastererzählung brechen schwere Zeiten an. Das wird schon alleine daran sichtbar, dass es am Ort des Erinnerns, dem Ground Zero, noch immer nichts zu sehen gibt. Parteipolitische Differenzen und Unstimmigkeiten zwischen den Gebietskörperschaften haben es in den Jahren seit 2001 verunmöglicht, eine gemeinsam initiierte Gedenkstätte zu errichten. Jetzt drängt die Zeit und spätestens 2011 soll diese Lücke behoben sein. Joseph C. Daniels, Präsident des “National September 11 Memorial and Museum at the World Trade Center”, verrät schon vorab, dass vor allem die 19 Flugzeugentführer im Zentrum der Planungen stehen. Nach Fertigstellung werden die Konterfeis jedenfalls in 10 cm Breite und 15 cm Höhe im Hauptausstellungsbereich auf  einer Mauer zu sehen sein. Niemand, so seine immer wiedererkehrende Mahnung in den vielen Interviews, solle von der Wahrheit keine Notiz nehmen können.

Die Reformpolitik Obamas ist gut beraten, sehr genau darauf zu achten, dass der “National Day of Service and Remembrance”, wie der 11. September fortan per gesetzlicher Verfügung heißt, nicht zu einer weiteren Vernebelung der historischen Zusammenhänge von 9/11 führt. Wenn sich jedenfalls die von FOX News am Gedenktag mehrfach wiederholte Betonung, 9/11 unterscheide vor der Welt die “Gesichter des Bösen” von den “Gesichtern des Guten”, unablässig in die Köpfe der Menschen fortschreibt, zeichnet sich schon jetzt ein herber Rückschlag für die ideelle Erneuerung der US-amerikanischen Gesellschaft ab. Und dann sind intelligente Formen der geschichtspolitischen Konfrontation noch mehr als zuvor gefordert.

MALMOE