Der Zwang, einem Objekt der Begierde nahe sein zu müssen, es zu umschlingen und zu besitzen, erweist sich oft als grausame Qual. Wenn sich die von Gewittern aufgewühlte Welt dann auch noch zunehmend verengt, verfängt sich der Wahn in einem kognitiven Käfig, aus dem es letztlich kaum ein Entrinnen gibt. “Die tote Stadt” nannte Erich Wolfgang Korngold seine in drei Bildern komponierte Oper, deren Hauptrolle in ein ähnliches Martyrium gerät. Die Handlung spielt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, irgendwo in Brügge. Hierher verschlägt es Paul nach dem Tod seiner geliebten Frau, weil er sich, von der tiefen Trauer schwer gezeichnet, in der Tristesse der alten Handelsstadt am besten aufgehoben wähnt. Als Rückzugsgebiet dient ihm ein kleines Zimmer. Der Protagonist nennt sein dürftiges Refugium die “Kirche des Gewesenen”, um seine seelische Not mit einer sakralen Aura zu umrahmen. Jedoch gerät Paul in einen verhängnisvollen Sog von Erscheinungen und Visionen, in eine rasende Wut, die ihn, der sich nicht mehr zu zügeln weiß, in den Träumen sogar zum Mörder werden lässt. Der einzig verbliebene Freund weist ihm am Ende den Ausweg, um sich von der Pein der Obsessionen zu befreien. Paul muss Brügge, die tote Stadt, umgehend verlassen.
Eine tote Stadt. 1920 setzte Korngold, das “Wunderkind der Komposition”, den Auftakt zu einem großen Welterfolg. Und auch dreißig Jahre zuvor hatte Bruges-la-Morte, die Romanvorlage des belgischen Schriftstellers Georges Rodenbach, bei reichlichem Applaus einen wichtigen Beitrag zur internationalen Etablierung des Symbolismus leisten können. Diese zur Jahrhundertwende noch junge Kunstform zielte nicht darauf ab, das Publikum mit einer bekömmlichen Erzähl- und Darstellungsweise zu erfreuen, sondern forderte anhand einer Skulptur von Andeutungen zur eigenständigen Erkenntnis auf. Anders verhält es sich bei jenen Schülerinnen und Schülern, die Anfang 2009 losgeschickt wurden, um sich auf eine ganz besondere Spurensuche zu begeben. Dabei stand nicht die Erkenntnis als Ansporn zur individuellen Nachdenkleistung im Vordergrund, ganz im Gegenteil. “Kulturerbe. Tradition mit Zukunft” lautete bereits zum fünften Mal die hermeneutische Vorgabe der Schulaktion, einer gemeinsamen Initiative des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, der Österreichischen UNESCO-Kommission sowie des Bundesdenkmalamts. Wer also, wie in der Ausschreibung zu lesen war, der “Bedeutung und Erhaltungswürdigkeit des kulturellen Erbes” mit kreativen Projekten zu innovativer Sichtbarkeit verhelfen konnte, wurde letztlich mit einem Preis bedacht.
Was am Ende dabei sichtbar wurde, ist hier nicht von Interesse. Viel eher muss ein Trend Beachtung finden, der in dieser Vermittlungsoffensive zur materiellen und immateriellen Denkmalpflege zum Ausdruck kommt. Was genau wird damit bezweckt, kulturelle Überlieferung wie einen verbindlichen Imperativ von Generation auf Generation zu übertragen? Warum glorifizieren Bildungseinrichtungen, deren Aufgabe es ist, die Heranwachsenden mit einem intellektuellen, vor allem aber reflexiven Rüstzeug für die Zukunft zu versehen, die Hinterlassenschaften der Vergangenheit? Seit geraumer Zeit durchläuft eine wachsende Anzahl europäischer Städte einen Fitness-Parcours, um, wie in den Handbüchern des neuen städtischen Managements zu lesen ist, die outstanding cultural performance zu verbessern. Beim Drang nach kultureller Profilierung ist ihnen jedoch nicht daran gelegen, der kulturellen Vielfalt, die sich als Resultat von Globalisierung und Migration in das Gefüge von urbanen Gesellschaften eingeschrieben hat, mit adäquaten Maßnahmen gerecht zu werden. Den Visionspapieren der Kommunalverwaltungen ist wenig zu entnehmen, dass die Zugezogenen – ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechend – bei der architektonischen Gestaltung ihrer Lebensmittelpunkte zu involvieren sind. Ebenso wenig wird berücksichtigt, dass globale Veränderungen, die sich im heterogenen Mikrokosmos der Städte widerspiegeln, auch Beteiligungsmöglichkeiten an der Gestaltung schulischer Rahmenbedingungen sowie eine selbstbestimmte Aneignung von öffentlichem Raum und Medien erfordern.
Abendland von Christenhand? Europas extreme Rechte, die den “Kampf der Kulturen” mit zunehmend aggressiven Tönen auf ihre Fahnen schreibt, hat im Ringen um die politischen Paradigmen den Taktstock übernommen. Konservative wie auch sozialdemokratische Kräfte verhalten sich dieser Entwicklung gegenüber wie die Getriebenen. In den Städten, den unmittelbarsten Austragungsorten sozialer Gegensätze und Konflikte, sind Strategien gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit jedenfalls Mangelware und – sofern vorhanden – eher Teil des Problems als ein ernstzunehmender Ansatz zu dessen Lösung. Österreich ist da kein Einzelfall. Das deutsche Bundesland Nordrhein-Westfalen will mit der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 “Europa eine Seele geben”. Die Stadt, so wird in den Konzepten als Losung ausgegeben, muss sich als “europäische Kulturleistung ersten Ranges” begreifen, als ein konstitutiver Ort, der das “kulturelle Potential zu aktivieren versteht”. Dieses Potential verberge sich in der historisch gewachsenen “Topographie”, in der kulturellen und politischen Struktur “europäischer Gesellschaften”. Derartige Postulate folgen der Vorstellung, dass Kulturpolitik, die sich der Herstellung einer europäischen Bevölkerung verpflichtet fühlt – und anders kann hier die “Seele” nicht gedeutet werden –, eine zentrale Säule der Demokratisierung bilde. Dieses Verständnis ist irreführend und verschleiert den Umstand, dass die Kulturalisierung des urbanen Marketings vor allem neue Qualitäten gouvernementaler Verhältnisse nach sich zieht.
Wenn also die Stadt, die sich als “Kulturleistung ersten Ranges” positioniert, auf eine Topographie verweist, welche wiederum – und an diesem Punkt nimmt das Getöse von Politik und Medien um das kulturelle Erbe eine geradezu entlarvende Rolle ein – der Konstruktion Europas als psycho-sozialer Kontext dienen soll, werden identitäre Trennlinien gefestigt und weiter fortgeschrieben. Durch die Überbetonung des Prädikats Europäisch, das bei Étienne Balibar, seit vielen Jahren philosophisches Aushängeschild der globalisierungskritischen Multitude, als Konstruktion einer “fiktiven Ethnizität” kritische Erwähnung findet, wird vor allem das Nicht-Europäische sichtbar gemacht. Das spielt nicht nur auf nationalstaatlicher und supranationaler Ebene den Abwehrphantasien der extremen Rechten gegen Zuwanderung und fremde Einflüsse in die Hände, sondern gefährdet als schleichender Normalzustand den sozialen und kulturellen Ausgleich innerhalb kommunaler Gemeinschaften.
Dabei gilt nicht als gefährlich, wer sich dieser Anschauung mit restriktiven Fremdengesetzen, erweiterten Polizeibefugnissen und immer neuen Vorschriften zum Erhalt der baulichen Substanz von Europas Identität verschreibt. Abzuwehren ist, wer die allgemein verbindlichen Deutungssysteme in Frage stellt, deren Zeichen und Symbole negiert und mit Interventionen irritiert und verstört. Im Herbst 2008 gingen in ganz Frankreich die Wogen der Empörung hoch, als der US-amerikanische Objektkünstler Jeff Koons mit einer Werkschau in die ehemals königlichen Appartements des Schlosses von Versailles geladen war. Ein bonbonroter Hund von surrealistischer Größe, ein Playboy-Hase sowie die Installation eines in Neobarock gehaltenen Michael Jacksons aus Porzellan verfolgten lediglich die Absicht, die zur Konvention geratene Wahrnehmung der Abbildung von Herrschaftsgeschichte mit kitschiger Affirmation zu konfrontieren. Wochenlange Proteste waren die Folge, nicht zuletzt auch aus den Reihen namhafter Kulturschaffender. Ihr lautstarker Einwand: Koons, der immerhin seit 2001 dem ausgewählten Kreise der französischen Ehrenlegion angehört, habe das Kulturerbe beschmutzt und dabei die Grande Nation genau am Lebensnerv getroffen.
Normabweichung wird in den Kirchen des Gewesenen nicht geduldet. Das musste Erich Wolfgang Korngold als Jude besonders schmerzvoll zur Kenntnis nehmen, bevor er 1935 in die Vereinigten Staaten emigrierte, um sich dem nationalsozialistischen Terror, vor dem er auch in Wien immer weniger sicher war, nicht weiter auszusetzen. Die rasende Wut, der schon wenig später das Töten in den Städten folgte, konnte ihn nicht mehr erreichen. Ungeachtet der historischen Brüche, der politischen Verwerfungen und Friktionen, hat sich das Wien der Nachkriegszeit nie für einen radikalen Neuanfang entschieden, sondern hält bis heute unbekümmert an den schillernden Kontinuitäten seiner Besitzungen an Palästen, Häuserfassaden und imperialen Mythen fest. Das kulturelle Erbe sei – so die offizielle Verteidigungslinie der UNESCO – das ideelle Eigentum der Menschheit und somit von Weltgeltung, weshalb neben der Erhaltung der physischen Substanz auch der schützende Schirm einer entsprechenden Bewusstseinslage aufzubauen ist. Der kognitive Käfig, der sich hier plötzlich auftürmt, entpuppt sich allerdings als kulturpolitische Trutzburg, deren Festungsmauern gegen eine Welt hochgezogen werden, die schon seit langem in das Visier der Hassparolen gegen Asyl- und vor der Misere Zufluchtsuchende geraten ist. Übergriffe der Exekutive, Misshandlung und verbale Aggressionen, zeichnen sich tagtäglich auch vor den Kulissen des kulturellen Welterbes ab. Als wären sie unberührbar und sakrosankt, wird Kulturstätten ein weit reichender Schutz zuteil, den der Staat bei der Auslegung von Menschenrechten nur mit zweierlei Maß gewährleistet. Wer hier ein Umdenken verlangt, dem vor allem auch strukturelle Beseitigungen von Rassismen und Diskriminierung folgen, muss die Kirchen des Gewesenen zum Einsturz bringen. Das hätte Zukunft, abseits der als Erbe herumgereichten Traditionen. Vielleicht gelangte eines der zur kreativen Innovation angehaltenen Schulprojekte mit einer ähnlich lautenden Schlussfolgerung zum Erfolg. Die prämierte Unternehmung durfte sich über 1.500 Euro freuen.