Flucht, Krampf oder Starre, im schlimmsten Falle sogar der Verlust der Selbstkontrolle, sind Anzeichen für Panik und die dadurch ausgelösten Verhaltensmuster. Nicht panischer Kontrollverlust, sondern vielmehr das Kalkül der Stimmenmaximierung dürfte wenige Wochen vor den vorgezogenen Parlamentswahlen 2008 den Ausschlag gegeben haben, dass Innenministerin Maria Fekter von der rechtskonservativen ÖVP mit einem neuen Vorstoß medienwirksam von sich Reden machte. Jene – so zeigte sie sich überzeugt –, die nicht in Österreich geboren sind und auch keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, neigen immer mehr zur Abweichung von kulturellen Leitvorstellungen. Mit den Mitteln des Strafrechts alleine sei ihnen nicht beizukommen. Rassistische Stereotype und Vorurteile über Kriminalstatistiken zu verstärken, erschien angesichts der Meinungsumfragen nun auch Regierungsmitgliedern gewinnbringend und opportun. Stimmungsmache gegen alles Fremde und Nicht-Österreichische hatte schon im Februar 2000 mit der Regierungszusammenarbeit der ÖVP mit Jörg Haider und seiner rechtsextremen FPÖ einen dramatischen Konjunkturaufschwung erlebt – und dann allerdings mit der Besorgnis der EU-Mitgliedsstaaten auch deren kurzzeitige Sanktionen nach sich gezogen. Acht Jahre später appellierte die “Eiserne Lady”, wie sich Fekter in Anlehnung an Margaret Thatcher gerne nennen lässt, in einer Koalition mit der Sozialdemokratie für eine Erweiterung der österreichischen Rechtsbestände um das so genannte “Kulturdelikt”. Konkret könnte sich das schon in naher Zukunft so darstellen: Wenn ein Zuwanderer islamischen Glaubens seine Frau schlägt, sollten beim Strafausmaß kulturell begründete Verschärfungen zur Anwendung kommen, die der österreichische Gewalttäter, der seit frühester Kindheit getauft ist und somit dem hegemonialen Verständnis der Mehrheitsgesellschaft entspricht, für das gleiche Vergehen nicht zu befürchten hat. Ein juristischer Ausnahmezustand im Namen der nationalen Sicherheit!
Jede auf Rechtsstaatlichkeit bedachte Gesellschaft würde in Folge derartiger Initiativen mit öffentlichen Protesten reagieren, sodass ein Verbleib im Regierungsamt undenkbar wäre. Nicht so in Österreich. Hier wird die Aushöhlung von Gleichheitsgrundsätzen entweder bejubelt, wie etwa auf Seiten des quotengierigen Boulevards, von einstmals kritischen Instanzen mit ratlosem Gleichmut zur Kenntnis genommen – oder aber unter Intellektuellen und früher streitbaren Persönlichkeiten schlichtweg ignoriert. Das mag insofern überraschen, als doch im vorliegenden Fall eine Spitzenpolitikerin, die für die Verbrechensbekämpfung höchste Regierungsverantwortung trägt, tief in die Sphäre des Kulturellen vorgedrungen ist und somit kulturpolitische Territorialansprüche stellt. Doch war an offizieller Stelle in der österreichischen Kulturpolitik nur Stillschweigen zu konstatieren. Keine Stellungnahme, keine Zurückweisung, ja nicht einmal ein oppositionelles Murren – auch nicht aus den Reihen der Kunst.
Die stete Ausweitung der Law-and-Order-Politik beschreibt nicht nur das geistig-kulturelle Klima Österreichs, sondern macht auch deutlich, dass es in Kunst, Kultur und Medien zu tief greifenden Verschiebungen gekommen ist. Der künstlerische Widerstand, der in den Jahren der ultrarechten Herrschaft auch in Österreich mit seiner vielfältigen Auflehnung gegen Privatisierung und Demokratieabbau an die neuen sozialen Bewegungen punktuell Anschluss gefunden hatte, war jedenfalls nicht von langer Dauer. Globale Trends haben mittlerweile auch in der Alpenrepublik die politischen Rahmenbedingungen der Kunstproduktion nachhaltig geprägt – und das vor allem zu ihrem Nachteil. Wie ganz allgemein der öffentliche Raum muss seither auch der öffentliche Charakter der Kunst, in den siebziger Jahren noch ein zentrales Postulat der sozialdemokratisch angestrebten Gesellschaftsreformen, eine massive Zurückdrängung erfahren und dem Primat der neoliberalen Verwertungslogik weichen. Die Unterhaltungsindustrie steigert mit Kultur-Events und Festivals von Jahr zu Jahr die Erträge, während die kritische Artikulation von Künstlerinnen und Künstlern zunehmend verstummt.
Es hat sich eben herum gesprochen, dass mit Förderungen bedacht wird, wer sich ruhig verhält, sich dem beschaulichen Wertekanon der Kulturverwaltung fügt und – ganz wichtig! – von wirtschaftlichem Nutzen ist. Dabei war das nicht immer so. Wenn auch nicht in großer Zahl, so gab es sehr wohl auch in Österreich bis vor wenigen Jahren Kulturprojekte und künstlerische Unternehmungen, die sich den Entwicklungen der Ökonomisierung und Entpolitisierung konsequent widersetzten. Nicht Kreativwirtschaft, Umwegrentabilität, Eitelkeit und Geschäftemacherei standen dabei im Vordergrund. Vorrangiges Ziel war eine vielmehr hintergründige Auseinandersetzung mit neuen Methoden der Herrschaftsausübung, mit Privatisierung, Überwachung und Kontrolle, sowie das Erproben künstlerischer Praxen unter Aneignung selbstbestimmter medialer Räume. Die Wiener Medienkultur-Plattform Public Netbase, die von 1994 bis 2006 große internationale Beachtung finden konnte, darf wohl zu Recht als ein Beispiel Erwähnung finden, das aufgrund seines dissidenten Charakters letztlich nicht überleben durfte. Dabei genießt Public Netbase als Pionierin für zahlreiche Aktivitäten an der Schnittstelle von Kunst, Politik und Medien bis heute großes internationales Ansehen. Aus gutem Grunde, wurden doch durch die Verbindung von unabhängiger Content-Produktion, kritischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen sowie der partizipativen Aneignung von Medienkompetenz wichtige Grundlagen zukünftiger Kulturtechniken öffentlich zur Verfügung gestellt. Die politische Entscheidung der sozialdemokratisch regierten Stadt Wien, die finanziellen Zuwendungen überfallsartig zu streichen, hat der angesehenen Institution nach jahrelangen Schikanen durch die Bundesregierung, die angesichts der Beteiligung des Rechtsextremismus als eines der unrühmlichsten Kapitel der österreichischen Nachkriegsgeschichte anzusehen ist, nach nur zwölf Jahren der Existenz das endgültige Aus beschert.
Zurück bleibt die Erinnerung an Projekte wie S-77CCR, der Installation einer Gegenüberwachungsanlage, das Kommando Freiheit 45 mit einer virtuellen Kuhentführung als kritische Intervention zum Regierungsspektakel des Österreich-Jubiläumsjahrs 2005, und natürlich nikeground. rethinking space aus dem Jahr 2003. Dessen Konzept wurde für den Karlsplatz im Wiener Stadtzentrum entwickelt, der als Austragungsort eines Gedankenexperiments zu einer breiten – vor allem auch medialen – Diskussion anregen sollte. Vier Wochen lang suggerierte ein gläserner Hightech-Pavillon die unmittelbar bevorstehende Umbenennung des Karlsplatzes in Nikeplatz. Parallel zu einer Website und einer breiten Vermittlungskampagne in lokalen Leserbriefkolumnen kündigte ein vor Ort weithin sichtbares Zeichen die Errichtung eines 36 Meter hohen Monuments in Gestalt des Firmenlogos an und löste erwartungsgemäß heftige Reaktionen in Politik und Medien aus. Die Intention, eine kontroversielle Debatte darüber in Gang zu setzen, inwieweit der öffentliche Raum, seine kulturelle Ausgestaltung einer Besorgnis erregende Enteignung durch Kapitalinteressen und deren Deutungsmacht über die Symbole des Alltags zum Opfer fallen, fand großen Anklang und pflanzt sich auch lange nach dem Ende von Public Netbase in zahlreichen Diskursen, Ausstellungen und Publikationen weiter fort.
“Das Spektakel”, schrieb Guy Debord bereits vor vier Jahrzehnten, “ist die Ideologie schlechthin, weil es das Wesen jedes ideologischen Systems in seiner Fülle darstellt und äußert: die Verarmung, die Unterjochung und die Negation des wirklichen Lebens”. Um dieses Gefüge zu zerstören, so eine der wichtigsten Schlussfolgerungen des Mitbegründers der Situationistischen Internationale, “bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten”. Der französische Autor und Filmemacher Debord glaubte noch an den künstlerischen Kampf gegen Kapitalismus und die Herrschaft der Waren. Wer sich im Jahr 2008 in Österreich nach widerständiger Kunst umsieht, muss sich mit Ernüchterung zufrieden geben. Dissidenz hat dem Konformismus inzwischen Platz gemacht, weil die Repression, in Form von Förderungsentzug, bürokratischen Hürden, existenzielle Not, nur allzu oft das enge Bündnis mit dem Spektakel sucht. “Kunst ist das universelle Schmiermittel dafür”, lehrt die britische Professorin für politische Ästhetik Esther Leslie, “dass sich die Zahnräder des Wirtschaftslebens besser drehen und die Gelenke der Gesellschaft weicher ineinander greifen”. Wenig verwunderlich also, dass die Utopie in der Kunst zu einer kunsthistorischen Kuriosität verkommt.
Wenn eine emanzipatorische Praxis in Kunst, Kultur und Medien durch ihren Impetus auf gesellschaftliche Entwicklungen zu neuer Bedeutung finden will, ist eine Rückbesinnung auf das “Delikt” im Sinne einer Abweichung von Konventionen unbedingt geboten. Noch befindet sich die Ablehnung des Systems der Zurschaustellung, der Überwachung und der sozialen Inklusion zumeist marginalisierter Gruppen in der Defensive. Doch verlangen die großen Herausforderungen, für die es ohne weiteren Aufschub neue Antworten und Lösungen zu entwickeln gilt, gerade auch von den Künstlerinnen und Künstlern intelligente Codes der Verweigerung und radikale Gesten. Die Gegenwart duldet ohnedies kein allzu langes Innehalten. Die soziale Absicherung des Kunstschaffens, eine stärkere Berücksichtigung bislang diskriminierter und unterrepräsentierter Positionen, die längst überfällige Investitionsbereitschaft zur Etablierung eines von Kommerzinteressen unabhängigen Mediensektors sowie die Entschlossenheit, der Copyright-Industrie und ihrer Privatisierung der Kunst- und Wissensproduktion Einhalt zu gebieten, sollten Weckruf genug sein, um sich in der öffentlichen Auseinandersetzung wirkmächtig zurück zu melden. Sollte dies gelingen, erschiene auch ein durch Panikattacken hervor gerufener Kontrollverlust der österreichischen Sicherheitspolitik in einem völlig neuen Licht.