Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, traf der Bundesparteiobmann der ÖVP zu Beginn des Jahres 2008 eine Entscheidung, deren gesellschaftliche Tragweite allemal mehr Beachtung verdienen müsste. Denn obwohl die erstmalige Einrichtung eines Verhütungsmuseums auf österreichischem Boden eine positive Bescheinigung durch das sozialdemokratische Ministerium für Unterricht, Kunst und Kultur vorweisen konnte, verweigerte Wilhelm Molterer in seiner Funktion als Finanzminister die Zustimmung zur steuerlichen Absetzbarkeit allfälliger Spendenleistungen. Damit ist die Option, für den Betrieb dringend benötigte Privateinnahmen zu erschließen, nachhaltig erschwert. Den Medien war diese Meldung bestenfalls kleine Randnotizen wert, nur Radio Vatikan, die – wie es sich selbst bezeichnet – “Stimme des Papstes und der Weltkirche”, hatte allen Grund zum Jubel. Für das Projekt, das sich ein präventiv orientiertes Vermittlungsangebot zu Geschichte und Gegenwart von Schwangerschaftsverhütung und Schwangerschaftsabbruch zur Aufgabe macht, bedeutete das ministerielle Nein einen herben Rückschlag, der im Kreise der Museumsverantwortlichen scharfe Kritik nach sich zog: Des Vizekanzlers Kniefall vor den kleriko-konservativen Protesten gleiche einem Akt der Zensur und müsse als Besorgnis erregende Aushöhlung des säkularen Staates gewertet werden.
Österreich verhielt sich dennoch auffallend ruhig. Keine Stellungnahme der bislang auf kirchliche Einflussnahme sensibilisierten Koalitionspartnerin SPÖ, keine Töne des Missfallens seitens der Opposition, kein Murren bei den ansonsten auf offensive Sexualaufklärung bedachten Jugendorganisationen. Die ÖVP sitzt eben auf einem langen Ast – und Wilhelm Molterer hat dieses Faktum einmal mehr mit Machtbewusstsein vorgeführt. Er weiß nur allzu gut, dass die vom damaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel geführte Volkspartei mit dem Ergebnis der Nationalratswahlen vom 1. Oktober 2006 zwar auf den zweiten Platz verwiesen wurde, dann aber doch wieder sehr schnell – vor allem auch dem Verlust der Alleinherrschaft über den ORF sowie der Landeshauptleute in Salzburg und in der Steiermark zum Trotz – zu neuer Durchschlagskraft gefunden hat. Die Besetzung der Schlüsselressorts in der Regierung unter SP-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer ist dabei nur eine formale Abbildung der realen Verhältnisse, die sich nicht zuletzt im Kräftemessen der beiden Großparteien um die hegemoniale Hoheit widerspiegeln. Die Ablehnung der steuerlichen Absetzbarkeit von Spenden an das Verhütungsmuseum folgt demnach nicht der Logik eines auf das fiskalische Staatswohl vereidigten Säckelwarts. Der Finanzminister setzt auf die symbolische Wirkung und damit vor allem auf einen Trend innerhalb der ÖVP, die ihren sozial-liberalen Flügel dem raffgierigen Regierungsbündnis mit der extremen Rechten im Jahr 2000 geopfert hat und den national-konservativen Vertretungsanspruch seither auch – quasi zur Vervollkommnung der Programmatik – in eine kulturelle und mediale Ikonographie übersetzen muss.
Doch der Reihe nach: Wiewohl sich das so genannte Gedankenjahr 2005 bereits nach wenigen Wochen als tölpelhafter Versuch entpuppte, die Jahre nach 1945 zu einer rot-weiß-roten Erfolgsgeschichte umzudeuten, setzte die von der ÖVP beinahe allein dominierte Regierung alles daran, die Inszenierung der Jubiläumsfeierlichkeiten in den Dienst ihrer Ideenwelt zu stellen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten die bürgerlichen Parteien, allen voran die Volkspartei, noch mit weltgewandten Argumenten und den entsprechenden bildlichen Übertragungen für den Beitritt Österreichs zur EU als unabdingbare Einsicht in unsere globalisierte Wirklichkeit geworben. Schon ein Jahrzehnt später trommelten die ÖVP-Spitzen mit schunkelnden Volkslied-Darbietungen und vergnügten Trachtenumzügen in heimischen Weingärten für mehr patriotisches Bewusstsein, was dem internationalen Ansehen eine eher schaurige und überdies längst vergessen geglaubte Folie einer vaterländischen Hinterlassenschaft verlieh. Als die zweifelhafte Episode der Regentschaft Wolfgang Schüssels allmählich ihrem Ende entgegen steuerte, erzeugten die mit staatlichen Millionenaufträgen überhäuften PR-Agenturen noch einmal mit aller Kraft den Eindruck, als sollten die vom Hochgeschwindigkeitskapitalismus geplagten Menschen in die erholsame Idylle frisch aufgewärmter Österreich-Stereotype zurück geholt werden. Das naturbelassene Bild des Kanzlers an der Gebirgsquelle, ein zentrales Sujet im Wahlkampf 2006, zielte nicht darauf ab, das allgemeine Vertrauen in die Reinheit des heimischen Wassers zu stärken. Es suchte schon eher die generelle Reinwaschung, etwa im Hinblick auf jene gesellschaftlichen Friktionen, deren Mitverantwortung nicht zuletzt der ÖVP zugeschrieben werden muss. An vorderster Stelle sind hier vor allem die immer größer werdenden Differenzen zwischen Arm und Reich zu nennen, ebenso eine Fremdengesetzgebung und ihr Vollzug, der internationale Menschenrechtsorganisationen seit vielen Jahren aufschreien lässt, sowie die Allgegenwart von Kontroll- und Überwachungstechniken, die den Schutz vor internationalen Bedrohungen vortäuschen und dabei den biopolitischen Totalzugriff auf das Individuum im Schilde führen.
“Es ist notwendig”, rief ÖVP-Generalsekretär Alfred Maleta seinen Gefolgsleuten bereits in den frühen 50er-Jahren zu, der Wirtschaftspolitik “ein aktivistisches Programm zur Lösung der kulturellen Zeitfragen zur Seite zu stellen”. Kulturpolitik war für die ÖVP seit jeher ein maßgebliches Terrain zur Verwirklichung der gesellschaftspolitischen Ziele. Ihr Arm erstreckte sich bis tief in die Aufmarschgebiete von Medien, Unterricht und Bildung. Damals, vor dem Hintergrund der bipolaren Nachkriegsordnung, galt die Sorge der Volkspartei dem US-amerikanischen Import rebellischer Figuren wie jener des Bazooka Joe sowie der Ausweitung der sowjetischen Satellitenherrschaft über die traditionsreichen Kulturstätten der Alpenrepublik. Heinrich Drimmel, ein ehemals fanatischer Heimwehrkämpfer, nahm sich als der mit Kunst und Kultus befasste Unterrichtsminister nicht nur der möglichst effizienten Verinnerlichung nationaler Mythen ab dem Kleinkindalter an. Er hatte auch auf die Instandsetzung der konservativen Immunsysteme zu achten. Mit nachhaltigem Erfolg. Brecht-Boykott, Provinzialismus und die kleinkrämerische Anti-Moderne der Drimmel-Jahre wirken jedenfalls bis in die Gegenwart.
Die Welt hat sich seither grundlegend verändert. Wohl schon alleine deshalb bleiben Österreichs Konservative unnachgiebig streitbar und vor allem auf der Hut. Der Politikwissenschafter Anton Pelinka prophezeite zu Jahresbeginn 2008 in einer Umfrage der Wochenzeitung Die ZEIT zu den Zukunftsperspektiven Österreichs, dass bis zum Ausklang des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends mit einer “Wiederbelebung der Fristenlösungsdebatte und einer Wiederkehr des politischen Katholizismus” zu rechnen sei. In absehbarer Zeit würden “ungewöhnliche Allianzen” entstehen. “Der konservative Katholizismus”, so Pelinka, “müsste im Islam einen Verbündeten sehen” – gegen sexuelle Selbstbestimmung, Relativismus und Emanzipation. Der Beitrag schloss folgerichtig mit der Frage: “Koalition der Gläubigen statt Clash of Civilizations?”
Wie auch immer – die ÖVP ist für alle Fälle ideologisch gerüstet. Ein Blick in die aktuelle politische Praxis der Volkspartei macht deutlich, dass die Beherrschung der Klaviatur populistischer Inszenierungen viele Register zu bedienen weiß. Vielsagende Aufschlüsse bietet das Bundesland Niederösterreich. “Grundsätzlich agiere ich wie ein Familienvater”, erklärte Ende Jänner 2008 der seit 15 Jahren amtierende Landeshauptmann Erwin Pröll, dessen Wiederwahl am 9. März zu diesem Zeitpunkt so gut wie außer Zweifel stand. In einem Interview für das Wirtschaftsmagazin trend erläuterte er die Grundprinzipien seiner Ausgabenpolitik. “Wenn ich mein Einkommen in schöne Weltreisen investiere, dann ist Schuldenmachen eine Gefahr. Wenn ich wie ein kluger Bauer in Feld und Stall investiere, schaut die Welt anders aus.” Wie sich diese Welt in Bildern darstellt, illustrierte im Vorwahlkampf die Kampagnenabteilung der im Lande bislang ungeschlagenen ÖVP. “08 das neue niederösterreich hält zusammen”, verkündete eine Plakatbotschaft, die Optimismus offenkundig aus landwirtschaftlichen Wohnstuben schöpft. Eine ältere Frau, volkstümlich gekleidet, das Haar auf traditionelle Weise zu einem Kranz geflochten, drückte mit einem Lächeln ihre Zufriedenheit an der Seite ihres Sohnes aus, der die Furchtlosigkeit nachrückender Generationen vor den Herausforderungen der Zukunft verkörperte. Abgerundet wurde das bildliche Ensemble von einem Kruzifix, jenem Verbindungsglied, das Stabilität und Halt im Glauben signalisiert und gesellschaftliche Konflikte kurzerhand in ein metaphysisches Nichts auflöst.
“Minarette sind etwas Artfremdes”, belehrte Landeshauptmann Pröll die Öffentlichkeit noch im Herbst 2007 in einem ORF-Interview, “und Artfremdes tut auf Dauer in einer Kultur nicht gut”. Ob sich angesichts solcher Töne, die unter dem Quotendruck des Medienboulevards immer öfter und brachialer zu Tage treten, die bislang unversöhnliche Koexistenz der Religionen zu dem von Anton Pelinka vorhergesehenen Zweckbündnis formieren lässt, sei für Niederösterreich dahin gestellt.
Wer sich – gleich in welche Richtung – auf Kreuzzug begibt, benötigt einen Überbau. Günther Burkert-Dottolo ist mittlerweile eifrig darum bemüht, sich als ein von Parteien unabhängiger Querdenker zu profilieren. Noch in den Jahren 1996 bis 2006 hat er sich als Leiter der Politischen Akademie der ÖVP in der Welt umgesehen, wo für Österreichs Konservative trendige Anschlussmöglichkeiten ausfindig zu machen sind. Für den Rechtsruck des Schüssel-Kurses und seiner Allianz mit Jörg Haiders FPÖ empfahl er schon früh, die ÖVP wie eine patriotische Blasmusikkappelle aufzustellen. “Der als Bedrohung und Entwurzelung erlebten Globalisierung”, notierte er im Februar 2004 in der Parteizeitung, “kann nur mit Regionalisierung und Heimatorientierung geantwortet werden. Die Betonung regionaler Identitäten, Subsidiarität und Entschleunigung sind richtige Strategien.” Die Anstrengung einer gesellschaftlichen Neuordnung, die – so viel lässt sich heute mit Gewissheit konstatieren – etwa den USA unter George W. Bush mit Kriegstreiberei, milliardenschwerer Vetternwirtschaft und der als Terrorismusbekämpfung getarnten Ausschaltung der Grundrechte nur mühevoll wieder abzutragende Langzeitschäden verursacht hat, galt über Jahre hinweg als neokonservatives Leitgestirn. Also grübelte Burkert-Dottolo, wie Evangelisierung, Sozialabbau und Turbokapitalismus in ein österreichisches Zukunftsmodell zu übertragen sind – und nicht zuletzt auch in die kulturelle Sphäre.
Wer konservativ ist, soll auch fröhlich sein. Das hat die CSU in Bayern erfolgreich vorgemacht, jetzt soll die ÖVP unter den Bedingungen einer globalen Ökonomie ähnlich erfolgreiche Schlüsse ziehen. Der Blick in die USA gemahnt den Parteiideologen in seinen Thesen zu den “bürgerlichen Zukunftshoffnungen auf christlichen Grundlagen” allerdings zur Skepsis: “Eine stärkere Positionierung der christlichen Parteien auf der neu gewonnenen Werte-Basis könnte die inhaltliche Auseinandersetzung wesentlich spannender machen. Die Gefahr – ähnlich dem Compassionate conservatism – in eine katholisch-konservative Ecke zu geraten, muss dabei von Anfang an mitgedacht werden. Aus dieser Position kann ein europäischer Ausweg durchaus in einem ‘Civic Conservatism’ liegen, der die Aussöhnung von Markt und Zivilgesellschaft anstrebt. Damit würde auch die Bürgergesellschaft wieder eine zentralere Rolle übernehmen, denn sie ist weder Anhängsel des Staates noch Ersatzstaat. Überhaupt widerstrebt sie ihrem Kern nach einer übermäßigen Organisation. Der Mut zum kreativen Chaos würde ihr auch das Element der Freiheit lassen.” Wenige Jahre später schlägt auch der Nachfolger in dieselbe Kerbe. “Das Kulturverständnis”, betonte Peter Danich, geschäftsführende Direktor der Politischen Akademie, im Frühjahr 2007 in den Österreichischen Monatsheften, “dass Kultur als individueller Veränderungswillen zu verstehen ist, der sich mit anderen verbindet, um Lösungen, Wege, Ansichten zu erproben, zu verknüpfen und zu verwerfen, hat jedenfalls für eine moderne konservative Politik höchste Relevanz.” Sein Credo: “Es spricht viel dafür, Kulturpolitik als Veränderungspolitik zu begreifen.”
Konservativ fröhlich? Mitfühlend konservativ? Der kulturpolitische Veränderungswillen der Volkspartei kann bereits an der Bilanz der Jahre 2000 bis 2006 abgelesen werden. Die gezielte Schwächung der strukturellen Grundlagen, für die neben ÖVP-Staatssekretär Franz Morak vor allem auch Wolfgang Schüssel als ehemaliger Regierungschef verantwortlich zeichnet, hat der politischen Praxis in Kunst, Kultur und Medien beträchtlichen Schaden zugefügt. Kritische Initiativen, Projekte und Kultureinrichtungen mussten – mit oft letalen Folgen – Kürzungen, Finanzierungsentzug, Kriminalisierung sowie bürokratische Schikanen über sich ergehen lassen, wobei es der Kulturkampf der Rechten insbesondere auf die international zum Teil viel beachteten Netz- und Medienkulturaktivitäten abgesehen hatte. Ob hier ein “Konservatismus mit Herz” zu Werke war, oder gar ein neuer “Mut zum kreativen Chaos”, ist unerheblich. Denn nicht – wie Burkert-Dottolo postuliert – das “Element der Freiheit” kam dabei zum Tragen, sondern das wenig erwärmende Kalkül der Brechstange. Mit bis heute andauernden Konsequenzen. Das Kunstschaffen wurde an das Gängelband einer sich autoritär gebärdenden Förderpolitik genommen, der gesamte Kulturbetrieb per Kreativwirtschaftsverordnung in einen “I am from Austria!”-Standortwettbewerb gedrängt. Wer sich zu Markte tragen muss, hält nicht an Autonomiegrundsätzen fest, die als konstitutive Vorbedingung einer freien Kultur- und Wissensproduktion jetzt mehr denn je zu erkämpfen sind. Diese Lektion haben auch Österreichs Universitäten und Hochschulen gemeinsam mit Kunst, Kultur und Medien gelernt. Es ist hoch an der Zeit, dass Reflexion, Kritik und Widerstand nach den Zonen der politischen Konfrontation mit den Aufmarschplänen der ÖVP Ausschau halten. Mit Gottgläubigkeit und der bloßen Hoffnung auf eine zur radikalen Erneuerung fähigen Sozialdemokratie wird ihr jedenfalls nicht beizukommen sein.