“Jugend, zu den Waffen!”, ruft die 25-jährige und über Frankreich hinaus bekannte Rapperin Diam’s im Frühjahr 2006 ihren oftmals noch jüngeren Fans unermüdlich zu. Solcherart Songtexte meinen nicht den Griff zu Machete und Pistole, sondern erinnern lautstark daran, dass schon vor Jahrhunderten Rechtlosigkeit, Not und Unterdrückung nur in einem großen gesellschaftlichen Kampf überwunden werden konnten. Sie will aber auch der Generation der Eltern und Großeltern vor Augen führen, dass schon die revolutionäre Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit von einem Schlachtruf begleitet war, der bis heute in der französischen Nationalhymne zu hören ist: “Bürgerinnen und Bürger, zu den Waffen!”
Damals wie heute bezeichnet dieser Kampf eine Kompromisslosigkeit, die angesichts einer zunehmenden Verelendung der Massen, von Perspektivlosigkeit und Zukunftsängsten, nicht mehr nur den vielen Tausenden Menschen in den Straßen von Berlin, Paris und Brüssel unausweichlich scheint. Denn obwohl Regierung und Sozialpartnerschaft den Menschen vorgaukeln, dass zwischen Wirtschaftswachstum und einer nationalen Eintracht für gesellschaftliche Zerwürfnisse und Gegensätze kein Platz vorgesehen ist, wird auch in Österreich eines immer deutlicher: Konflikte im Hinblick auf die Verteilung von Ressourcen und Wohlstand, von Zugängen zu Wissen, Information und Bildung sowie von Beteiligungsmöglichkeiten an politischen Prozessen sind hier zu Lande längst Bestandteile unserer gesellschaftlichen Realität. Es ist also nicht mehr zu leugnen, dass nun auch in einem der reichsten Länder der Erde die Armut immer stärker um sich greift.
Dabei handelt es sich bei der Anzahl jener, die mittlerweile unterhalb des Existenzminimums ihr Dasein fristen müssen, lediglich um die Spitze eines Eisbergs. Alleine der massive politische Umbau in der Bildungslandschaft der vergangenen Jahre wird eine in ihrer gesamten Tragweite heute noch gar nicht abzusehende Verarmung der Informations- und Wissensgesellschaft, in der wir alle leben, nach sich ziehen. Vor allem Jugendliche bekommen es zu spüren, dass mittlerweile mehr über Elite-Universitäten gesprochen wird, als über die Herausforderungen, auf dem Bildungssektor faire und gleiche Chancen für alle zu schaffen.
Junge Menschen erleben heute aber den Trend zur Armut auch in vielen anderen Alltagssituationen: Wo kann ich eigentlich noch ohne Konsumzwang eine Party besuchen? Muss ich tatsächlich für 5 Jahre ins Gefängnis, wenn ich Filme aus dem Internet kopiere, weil ich mir die Kinokarten auf Dauer nicht mehr leisten kann? Wie erkläre ich es dem Geschäftsführer meines Halbtagsjobs, dass meine vielen Überstunden eine finanzielle Abgeltung verlangen, ich aber bislang keinen Arbeitsvertrag erhalten habe?
Es gibt bislang kein Konzept der Armutsbekämpfung, das die Gesamtheit dieser Aspekte berücksichtigt. Dem Problem der anwachsenden Kluft zwischen jenen, die ihr Vermögen häufen und immer reicher werden, und jenen, die auf Grund der allmählichen Auflösung der sozialen Strukturen in den europäischen Wohlfahrtsgesellschaften immer mehr verarmen, ist mit der Hoffnung auf ein Aufwachen von Parteien, Gewerkschaften und Kirchen nicht beizukommen. Im Gegenteil: Als integraler Bestandteil einer durch das Christentum geprägten Kultur ist auch die in Österreich sehr beliebte Form der Mildtätigkeit ein Phänomen, das insbesondere in Krisen- und Katastrophenfällen durch ein weit verzweigtes System des Spendenwesen zum Tragen kommt (siehe z.B. die ORF-Aktion “Nachbar in Not”). Vor allem das Hilfswerk der Caritas trägt dazu bei, Armut sichtbar und zugleich zu einem ertragreichen Business der Gewissensnot zu machen, ohne dabei auch nur annähernd deren Wurzeln zu bekämpfen.
Mit dem inhaltlichen Schwerpunkt “Kampftage gegen Armut und Bildungsnot” setzt das Transmitter-Festival 2006 in seinem künstlerischen Programm ein deutliches Zeichen, das die zuvor angesprochene Kompromisslosigkeit zum Ausdruck bringen soll. Es soll aufgezeigt werden, dass Armut keineswegs als unausweichliches Schicksal zu betrachten ist, sondern als eine fundamentale Missachtung von Grund- und Menschenrechten.
Aus diesem Grunde darf Menschen, die – im oben genannten vielseitigen Sinne – in Armut bzw. Ressourcenknappheit leben, nicht mit einer gönnerhaften Geste der Nächstenliebe im Kapitalismus begegnet werden. Politisches Handeln muss, gleich ob in der Dorfgemeinde, in einem Bezirk oder im Bundesland, darauf abzielen, dieses Paradigma der gängigen Armutsklischees zu brechen und zu dekonstruieren. Dafür konnten auch junge Künstlerinnen und Aktionsgruppen gewonnen werden. Esther Straganz und Elke Auer beschäftigen sich in ihrem Projekt “Working On Fire” mit den Lebensrealitäten von Mädchen und jungen Frauen in Hohenems und werden die Ergebnisse ihrer Interview-Serie auditiv dokumentieren und im freien Radio Proton veröffentlichen. Die “Gruppe WEG” sowie auch die “United Aliens” werden sich im Rahmen von Workshops und Aktionen im öffentlichen Raum mit der Frage von Überlebensstrategien und Widerstandsformen beschäftigen. Einen Höhepunkt verspricht die Einrichtung des ersten Kost-Nix-Ladens in Vorarlberg.
Armut und Bildungsnot machen keinen schlanken Fuß, sondern ziehen Verzweiflung, Wut und Zorn nach sich. Das Transmitter-Festival 2006 eröffnet über die Veranstaltungstage (7. – 11. Juni 2006) hinaus die Möglichkeit, Denkanstöße zu bieten, Modelle einer politischen und kämpferischen Selbstermächtigung vorzustellen, wichtige künstlerische und mediale Vermittlungskanäle einzurichten und das öffentliche Bewusstsein damit nachhaltig zu schärfen. Das lässt vielleicht auch in diesem Umfeld eine größere Häufigkeit von Kampfansagen in den Songtexten gegen die neoliberale Wirklichkeit und damit gegen Unterdrückung, Perspektivlosigkeit und jugendliche Zukunftsängste erwarten.