Am 12. Februar 2004 rangen zwei beachtenswerte Gedenkanlässe um öffentliche Aufmerksamkeit. Während das offizielle Österreich des so genannten “Bürgerkriegs” vor siebzig Jahren gedachte, stand die Erinnerung an den Tod des großen deutschen Philosophen Immanuel Kant an diesem Tag vor genau zweihundert Jahren im Mittelpunkt der internationalen Feuilletons. Die zeitliche Koinzidenz ist rein zufällig und somit nicht weiter von Bedeutung.
Interessant ist hingegen, wie beide Jubiläen in ihren kulturgeschichtlichen Kontexten einander kreuzen und erneut einen der umstrittensten Gegensätze in der Gesellschaft dieses Landes zutage fördern, der bis in die Gegenwart tief verwurzelt ist. So steht der Geist der Aufklärung, der in Kants Aufruf zur Überwindung der selbstverschuldeten Unmündigkeit seinen vielleicht wichtigsten Grundstein gefunden hat, gerade in Österreich weitgehend machtlos einer politischen Kultur gegenüber, die sich vor allem der Zurückdrängung von gesellschaftlicher Reformation, demokratischem Pluralismus und sozio-kultureller Selbstbestimmung verschrieben hat. Am 12. Februar 1934 erfuhr dieser Konflikt einen weiteren, besonders dramatischen Höhepunkt in einer Jahrhunderte überdauernden Entwicklung. Dem Kanonendonner der Heimwehren und des Bundesheeres fielen an diesen Tagen nicht nur zahlreiche Menschenleben zum Opfer, er traf auch die moderne Gesellschaft in ihrem Lebensnerv.
In den Geschichtswissenschaften sind die politischen, ökonomischen und sozialen Ursachen dieser Zäsur sowie die darauf folgenden Jahr des Austrofaschismus weitreichend erforscht. Die Ergebnisse lassen keinen Zweifel zu: In den Jahren bis 1938 herrschte in Österreich eine sich selbst ornamentierende Diktatur, die sehr genau wusste, wie das Instrumentarium der politischen Unterdrückung, des Polizeiterrors und der Gewalt zu gebrauchen war. Die vermeintliche Abwehr feindlicher Einwirkungen von Innen und von Außen – hierzu wurden neben Sozialismus und Rätebewegung vor allem die zunehmende Säkularisierung des Kultur- und Geisteslebens sowie die globalen Wirtschaftskräfte eines entfesselten kapitalistischen Marktes gezählt – mündete schließlich in einen Krieg gegen die Bürgerinnen und Bürger, der weit über den 12. Februar 1934 hinaus die Kant’sche Hoffnung auf ein zukünftiges Dasein in Freiheit und auf eine allgemeine Verbindlichkeit der Menschenrechte zunichte machen sollte.
Siebzig Jahre später findet sich dieses Österreich am Kreuzungspunkt zweier Gedenkanlässe wieder, an dem ein führender Repräsentant der Universität Wien und Professor für Zeitgeschichte in einem öffentlichen Kommentar notiert, dass der Diktator Engelbert Dollfuß “durchaus Empathie” verdiene (Gerhard Botz in Der Standard, 18. Februar 2004). Man mag rätseln, wie es dazu kommen kann. Auch darüber, dass ein weithin bekannter Revisionist wie Gottfried-Karl Kindermann ausgerechnet in den Nationalrat zu einer Buchpräsentation eingeladen wird, die anhand des Jahres 1934 über die angebliche Schwindsucht des Parlamentarismus Auskunft geben soll. Es ist daher wenig verwunderlich, wenn dann auch noch ein Landeshauptmann in den gleichen Chor mit einstimmt und zu verstehen gibt, dass im Zweifel der Patriotismus mehr wiege als ein Festhalten an den ehernen Prinzipien der liberalen Demokratie (Franz Schausberger in profil, 2. Februar 2004).
Vielleicht ist es auf die nun schon seit vier Jahren amtierende rechts-konservative Regierung aus ÖVP und FPÖ zurückzuführen, dass allmählich – ohne dabei öffentlichen Aufruhr hervorzurufen – genau jene Erkenntnisse umgestoßen werden, die in den vergangenen Jahrzehnten versuchten, den politischen Chauvinismus, die kulturelle Großmannsucht sowie die rot-weiß-rote Eintracht nach 1945 mit einem neuen Verständnis einer weltoffenen Dissens- und Konfliktkultur abzulösen. Einer differenzierten Interpretation historischer Verläufe, so schien sich zu Beginn der 90er Jahre in Ansätzen abzuzeichnen, wäre dann zumindest ein Weg geebnet, aus dem wiederum wertvolle Impulse für eine zeitgemäße Demokratieentwicklung bezogen werden könnten. Diese Hoffnung hat nun einen schweren Rückschlag erfahren müssen.
Die Erinnerung an den 12. Februar 2004 bietet ein aufschlussreiches Kultur- und Sittenbild der Gegenwart. Oder wie es Robert Menasse in einem sehr umstrittenen Kommentar zu diesem Anlass formulierte: “Im Grunde erweist sich der Februar 34 als Schulbeispiel dafür, wie der – nicht wissenschaftliche, sondern politische – Umgang mit Geschichte im Allgemeinen, und in Österreich im Besonderen, funktioniert: Wer in den Spiegel der Geschichte blickt, sieht darin sein eigenes Gesicht.” (Der Standard, 12. Februar 2004)
Entscheidend ist also, welche Schlussfolgerungen aus dieser Einsicht gezogen werden müssen. Empfehlen sich nun angesichts all dessen, wenn man sich schon nicht dem Mainstream zugehörig fühlt, geduldige Selbstzensur und stillschweigende Resignation? Wie ist, wenn politisches Handeln denn doch unausweichlich scheint, der modernen und aufgeklärten Gesellschaft im späten Sinne Immanuel Kants zum Durchbruch zu verhelfen? Welche Ausgangssituation ist insbesondere für das kritische und nonkonforme Kunst- und Kulturschaffen zu konstatieren?
Gegenwärtig nimmt – bei gleichzeitiger Beschwörung der neoliberalen Formel “Mehr privat, weniger Staat!” – das staatliche Gemeinwesen zunehmend autoritäre Züge an, die nicht teilnahmslos zur Kenntnis genommen werden dürfen. Der weltweite Trend zur Kontrollgesellschaft bedeutet auch in Österreich nicht ein Mehr an Sicherheit – wie man insbesondere seit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York im September 2001 glauben machen will -, sondern zählt gegenwärtig zu den ganz besonders Besorgnis erregenden Entwicklungen, die sich in allen Bereichen des täglichen Lebens widerspiegeln.
Die sukzessive Aushöhlung der Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern findet nicht zuletzt Ausdruck in einem Polizeibefugnisgesetz, das die Rechte des Individuums zu Gunsten der Exekutive eingeschränkt hat. Auch die aktuelle Änderung der Strafprozessordnung, allem voran die Abschaffung des unabhängigen Untersuchungsgerichts sowie die Einrichtung einer weisungsgebundenen Staatsanwaltschaft, muss als nachhaltige Beschädigung der im Laufe von Jahrhunderten erkämpften Errungenschaften in der Justizpolitik und ihrer Anwendung gegenüber den Menschen gewertet werden.
Ganz grundsätzlich ist der sensible Komplex der Datenerfassung ein entscheidender Indikator für die Qualität einer demokratischen Rechtskultur. Ungeachtet dessen dient in Österreich die computergestützte Erfassung aller polizeilich angezeigten Personen (EKIS – Elektronisches Kriminalpolizeiliches Informationssystem) in erster Linie der Kontrolle und Überwachung. Selbst wenn die Unbescholtenheit außer Zweifel steht, bleiben jene Daten, die ursprünglich zu Anzeige führten, weiterhin erfasst und können auch jederzeit erneut bei Amtshandlungen zum Tragen kommen.
Obwohl soziale Systeme und der solidarische Zusammenhalt dem politischen Rückzugsprinzip zum Opfer fallen, was wiederum Deregulierung und in weiterer Folge Vereinzelung und unerbittliche Konkurrenz nach sich zieht, ist auf ein Spezifikum hinzuweisen, das als beispiellose Machtakkumulation als Restbestand feudaler Herrschaft aufgefasst werden muss. Es gilt als europaweit einzigartig, dass weisungsgebundene Behörden wie Bezirkshauptmannschaften und Magistrate für Fragen des Führerscheinentzuges uns sonstiger so genannter erkennungsdienstlicher Behandlungen zuständig sind. Nicht unabhängige Gerichte fällen somit diesbezügliche Entscheidungen und Urteile, wie es die in der Verfassung festgelegte Gewaltenteilung vorsieht, sondern die jeweilige Landesregierung als ausführendes Organ der Gesetzgebung. Hier liegt unverändert ein vom Verwaltungsgerichtshof mehrfach kritisierter Missstand vor, der signifikant ist für die schwierige Verankerung einer Rechtsstaatlichkeit in der politischen Kultur der Zweiten Republik, die daher mehr denn je auch als kulturpolitische Herausforderung aufrecht bleibt.
Die austrofaschistische Zeit war maßgeblich von einer aggressiven Distinktion gegenüber allem Nicht-Österreichischen geprägt. Nicht nur Staatsorgane, paramilitärische Verbände, Kirche und Klerus sind dem politischen Ordnungsruf gefolgt. Auch Künstlerinnen und Künstler haben zu einer nachhaltigen Einbettung der Abwehr des Fremden als zentrales Motiv und programmatisches Leitbild für die Neuausrichtung von Politik und Gesellschaft beigetragen. Insbesondere eine kulturpolitische Affirmation des Barocks und der Befreiung von der türkischen Gefahr vor Jahrhunderten sollte als mahnende Reminiszenz die Wehrhaftigkeit vor den vielseitigen Bedrohungen aus dem Osten ins Bewusstsein rufen. Ernst Kreneks Streitschriften gegen einen Musikbolschewismus, der als angeblich besonders perfide Ausformung des Unheils über Österreich hereinzubrechen drohe, sind heute als Ehrerweisung gegenüber der faschistischen Vaterländischen Front viel zu wenig in Erinnerung. Bekannter ist da schon eine vielsagende Tagebuchnotiz des Autors Robert Musil aus jenen Tagen nach dem Februar 1934: “Es ist nicht der böse Geist, sondern die böse Geistlosigkeit der österreichischen Kulturpolitik.”
Um Musils knappe Analyse in einer Schlussfolgerung für die Gegenwart anzuwenden, ist zunächst zu ergründen, inwieweit das Politische in der kulturellen Praxis von heute als Gradmesser der Politkultur Auskunft geben kann. Unbestritten ist, dass politische Kulturarbeit sich als widerständige Ausdrucksform manifestieren muss. Schließlich bemisst sich, so ein Postulat des italienischen Theoretikers und Aktivisten Antonio Gramcsi, der im Jahre 1937 dem Terror des italienischen Faschismus zum Opfer fiel, das Politische an sich an seinem Verhältnis zu Hegemonie. Gegenhegemoniale Konzepte werden somit für das Kunst- und Kulturschaffen konstitutiv. Auch Chantal Mouffe ist als renommierte post-marxistische Theoretikerin überzeugt: “Wenn die Bewegung eine wirklich politische werden und in den Lauf der Dinge eingreifen und ihn beeinflussen wolle, müsse sie sich in einer hegemonialen politischen Artikulation zwischen all den verschiedenen Kämpfen einbringen, den ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen. Das erfordert eine Definition des Gegners als Knotenpunkte der Macht, die angegriffen und transformiert werden müssen, um die Bedingungen für eine neue Hegemonie zu schaffen.” (Kulturrisse 0104, Februar 2004)
Der Blick in den Spiegel des Februar 1934 führt der politischen Kulturarbeit vor Augen, dass ihre Reichweite unweigerlich auf die Terrains der Globalisierung, Migration und der Grundrechte zu erstrecken ist. Schließlich handelt es sich hier um die zentralsten Kampfzonen der weltweit vernetzten Informations- und Wissensgesellschaft. Der bloße Ruf nach der Freiheit der Kunst, eine der wichtigsten Prinzipien im Kampf gegen Faschismus und Diktatur, reicht heute mittlerweile schon nicht mehr aus, um die Gefahrenpotenziale zu beschreiben, die auch demokratischen Systemen innewohnen. Auch hier erzeugen die Knotenpunkte der Macht unentwegt Grenzen und Barrieren , die den freien Fluss der Information und der Ideen sowie die Interaktion in Netzwerken nachhaltig beeinträchtigen. Eine Gesellschaft – und damit auch ihre sozio-kulturellen Produktions- und Partizipationsbedingungen – kann nur als eine freie Gesellschaft angesehen werden, wenn die Mobilität der Menschen sowie der Austausch von Wissen und Information keine Beeinträchtigung erfahren. Tatsächlich finden wir eine paradoxe Situation vor: Die freie Zirkulation des Kapitals, der Güter, des Konsums und der produktiven Prozesse werden einerseits weltweit gefördert, die Mobilität der Arbeitskräfte und die freie Zirkulation der Menschen sind jedoch massiven Einschränkungen ausgesetzt, sobald Armut und Diskriminierung den Ausschlag dafür geben.
Angesichts der Menschenrechtslage in Österreich ist gegenwärtig dringender Handlungsbedarf für eine kulturpolitisch ausgerichtete Kulturarbeit gegeben. Während angesehene Persönlichkeiten des repräsentativen Kultur- und Geisteslebens mehr Empathie für Engelbert Dollfuß empfehlen, verlieren sie kein Wort zur Situation jener Menschen, die aufgrund von Perspektivenlosigkeit, Terror und Verfolgung hierzulande Zuflucht suchen müssen. Zu den wichtigsten Erfahrungen der Migration nach Österreich zählt die Feststellung, immer wieder ein feindliches Umfeld vorzufinden, das keine weiteren Kompromisse mit Rassismus in Staat und Gesellschaft dulden darf. Zuletzt hat das mit 1. Juli 2004 in Kraft tretende Asylrecht derart massive Verschlechterungen gebracht, dass künftig bereits eine Abschiebung drohen kann, wenn nicht binnen drei Tagen Verfolgungsgründe glaubhaft gemacht werden können. In derlei Maßnahmen findet sich keine kulturgeschichtliche Tradition des aufgeklärten Abendlandes, worauf Konservative gerne im Einigungsprozess Europas verweisen, sondern eine menschenverachtende Politikausübung in der Ahnenreihe totalitärer Regime, die einen Immanuel Kant zu seinem Todestag bestenfalls mit Spott und Hohn bedankt.
Damit stellt sich die Frage: Wo bleibt der Protest der Öffentlichkeit, die sich nun – zweihundert Jahre nach dem Ableben des großen Philosophen und Denkers – mündig genug verstehen sollte, dieses mühevoll aufbereitete Wissen um humanitäre Grundsätze und ungeteiltes Recht gegen all jene zu wenden, die offenkundig über die Macht verfügen, das Rad der Zeit zurückzudrehen? Hier reicht der Schatten des Februar 1934 wohl noch weit über die Gegenwart hinaus. Eine Ursache für die Absenz einer kritischen Öffentlichkeit muss in der für Österreichs politische Kultur nach 1945 dramatisch einzustufenden Medienlandschaft verortet werden.
Von einem öffentlich-rechtlichen Medienwesen kann angesichts der Verstümmelung seines Kultur- und Bildungsauftrags kaum noch die Rede sein. Freie, nicht-kommerzielle Medienprojekte, die als Distributionskanäle zur tatsächlichen Überwindung einer individuellen Politik-Ohnmacht allen Bürgerinnen und Bürgern offen stehen, sind von der Gesetzgebung bislang nicht zur Kenntnis genommen und somit offiziell nicht existent. Und auch um die Telekommunikationsinfrastruktur ist es aus demokratiepolitischer Perspektive äußerst schlecht bestellt. Die Politik dieses Landes hat deren Bedeutung als Harmonisierungsfaktor für gesellschaftliche Ungleichheiten von Anfang an verkannt und ihre Ausgestaltung nicht an sozial-, kultur- oder bildungspolitischen Parametern orientiert, sondern ausschließlich den Interessen der Industrie überlassen. Dabei bilden offene und frei zugängliche Medien sowie plural gestaltete Technologie-Standards wichtige Grundlagen der informatisierten Netzwerkdemokratie von Morgen. Der Fetisch von einer Verschlankung des Staates, so scheint es sich auch für die Zukunft abzuzeichnen, wird wohl auch weiterhin von einem einen realen Rückzug der öffentlichen Verantwortung aus Medien, Kultur und Bildung begleitet sein, was letzten Endes eine Verarmung zur Folge haben muss, deren Tragweite heute noch kaum zu fassen ist.
In einer parlamentarischen Festveranstaltung zu den Ereignissen des 12. Februar 1934 haben der Nationalratspräsident und sein erster Stellvertreter – beide auch Spitzenrepräsentanten von ÖVP und SPÖ – einmütig erklärt, dass eine Abkehr der in Österreich angeblich bewährten Konsenskultur nicht wie ein Lichtschalter in Gang gesetzt werden dürfe. Genau darin liegt auch das Problem. Das Siècle des lumières, an das ein Immanuel Kant Zeit seines Lebens glaubte, hat in Österreich nicht viel Licht gesehen. Die Gewehrsalven auf Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich gegen Faschismus und drohende Diktatur zur Wehr setzen mussten, haben das Land nachhaltig verfinstert.
Die Anforderungen an eine politische Kulturarbeit sind somit evident. Nicht der Konsens ist die probate Schlussfolgerung aus den Lehren der Geschichte. Die globalisierte Wirklichkeit ist geprägt von Konflikten und Friktionen, Herrschaft und gegenhegemonialem Widerstand, von Reichtum und Armut, von Apathie und Aktion. Kulturarbeit kann sich diesen Realitäten ebenso wenig entziehen wie dem Ringen des Kant’schen Vermächtnisses mit den Folgeerscheinungen der austrofaschistischen Gewaltherrschaft. Der deutsche Autor und Kommentator des Zeitgeschehens Diedrich Diederichsen vermittelt in seinen Politischen Korrekturen (1996) einen Eindruck von der Wirkung, die aus dem kulturellen Feld auf Österreich zu übertragen ist: “Diskurse sind nun mehr als Diskurse, Worte nicht nur Worte: sie zählen als Politik.”