Rekordwerte der Verlotterung

Der Österreich-Konvent im Smog der politischen Kultur

Normalität in Österreich: Rund um den vierten Jahrestag der schwarz-blauen Bundesregierung beging das Land ein Jubiläum, dessen Anlass in Wahrheit immer weiter ins Off des politischen Erinnerungsvermögens geschleudert wird. Noch vor einiger Zeit hätte der Versuch, die endgültige Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie am 12. Februar 1934 als heimattreue Heldentat zu deuten, zumindest ein paar donnernde Zwischenrufe vernehmen lassen. Doch Österreich ist schon so normal, dass man sich durchaus gelassen mit dem dunstig-miefigen Übel arrangiert. Bleibt da noch Luft für Gegenstrategien?

Die politische Kultur scheint jedenfalls an einem neuen Rekordwert ihrer Verlotterung angelangt zu sein. Die Beispiele dazu häufen sich: Der Nationalratspräsident lässt sich ungenierter denn je vor dem Konterfei des Diktators Engelbert Dollfuß in den Klubräumen der ÖVP ablichten und lädt Revisionisten wie Gottfried-Karl Kindermann ins Hohe Haus zu Buchpräsentationen ein, die über die angebliche Schwindsucht des Parlamentarismus Auskunft geben sollen. Salzburgs Landeshauptmann Franz Schausberger tritt in Nachrichtenmagazinen in die Rolle eines älpischen Sachkundepädagogen und erklärt, dass im Zweifel der Patriotismus über den Erhalt der Demokratie zu stellen sei. Obwohl die Umfragen zu den Landtagswahlen am 7. März der Sozialdemokratie sowie den Grünen Erfolge in Aussicht stellen, erhält das Stillschweigen den Vorzug. Keine kritische Reaktion, kein Ärger – alles bleibt normal.

So verspürte auch die rechtsextreme Junge Freiheit bereits zu Beginn dieses Jahres frischen Wind in ihren Blättern: Es sei allmählich an der Zeit, so ist darin zu lesen, “Geschichtsbilder zurechtzurücken und das Verständnis für die politische Denk- und Handlungsweise der Väter und Großväter zu fördern, auch wenn diese aus guten Gründen keine ‘Demokraten’ waren”. Auf die Politik der Gegenwart können sich Väter wie Großväter getrost verlassen. Denn im Augenblick ist ein Österreich-Konvent im Gange, der einmal mehr die Vergangenheit für beendet erklären wird und sicher auch den Ewiggestrigen weiter die Pforten öffnet.

Doch zurück zum Ausgangspunkt: Bereits 2003 wurde – analog zum Verfassungskonvent der Europäischen Union – ein Gremium eingerichtet, das die derzeit gültigen Grundlagen des Staates auf ihre Zeitgemäßheit prüfen soll, um in weiterer Folge Vorschläge für eine Verfassungsreform auszuarbeiten. Der Ernst dieser Intention war schon zu Beginn äußerst zweifelhaft. Bereits seit Jahrzehnten verstauben diesbezügliche Studien und Expertisen ungelesen in den Amtsstuben der Republik. Wer erinnert sich noch an die Strukturreform-Kommission von 1989/90, wer an den mit der Bundesstaatsreform betrauten Minister Jürgen Weiss? Das ist alles lange her. Nach altem Honoratiorenmuster wurde daher im vergangenen Jahr erneut eine Reformtruppe in Stellung gebracht, die nicht nur einen egalitären Anteil von Frauen schlichtweg ignorierte (Verhältnis: 14 weibliche, 56 männliche Mitglieder), sondern auch wenig Interesse an tatsächlichen Veränderungen verspricht. Wie denn auch?

Von Spitzenpersönlichkeiten der Landesregierungen sowie von Sozialpartnern ist nicht zu erwarten, dass das Eingeständnis einer demokratiepolitisch unterentwickelten Gesellschaft auch die notwendigen Schlüsse nach sich zieht, ein nachhaltiges Fundament aus Grundrechten und Staatszielen zu errichten. Ihnen ist einzig an der Zementierung bestehender Machtverhältnisse gelegen. Damit war der Österreich-Konvent bereits zu Beginn zu einer Farce verkommen, an der sich allerdings auch ein kulturpolitisches Sittenbild entwickeln lässt.

Absurde 240.000 Euro für eine Homepage des Finanzministers und ungeklärte Geldtransfers seines Kabinettchefs dürfen den Blick nicht dafür verstellen, dass im Budgetvoranschlag für 2004 bereits eine große Ausgabenreduktion unter dem Titel “Bundesstaatsreform” vorgesehen ist. Kaum jemand interessiert sich noch dafür, wozu das eigentlich gut sein soll. Inhaltliche Debatten – so macht sich die veröffentlichte Meinung breit – sind angesichts der rein fiskalpolitischen Notwendigkeiten auch nicht weiter von Bedeutung. Das ist richtig und auch wieder nicht. Denn gerade die ÖVP und ihre ideologischen Kaliber nützen den Österreich-Konvent im Grunde für ein Kräftemessen um die Definitionshoheit in der Frage, wer in politische Prozesse zu involvieren ist und wer davon ausgeschlossen bleibt.

Ist nun die Teilnahme eines widerständigen kulturpolitischen Spektrums am Österreich-Konvent als probate Gegenstrategie zu werten? Ist angesichts dieses Smogs der politischen Kultur an eine demokratisch verfasste Zukunft mit weniger rot-weiß-roten Zwangsinjektion je zu denken? In beiden Fällen ist größte Skepsis angebracht. Und dennoch: Die Unkenntnis von den politischen Zusammenhängen des Konvents war nicht zuletzt im kulturellen Feld so groß – im Grunde eine Widerspiegelung der medialen Reflexion -, dass verbandsübergreifende Diskussionen der Interessenvertretungen zu dem Ergebnis gekommen sind, die Einladung zur Anhörung der so genannten nicht-staatlichen Organisationen am 26. Jänner anzunehmen. Eine streitfreudige Haltung, die die Absichten der vorgeblichen Staatsreform in ihrem Inneren entlarvt, erschien allen Beteiligten allemal sinnvoller als eine trotzige Ablehnung, deren Motive ungleich schwerer zu vermitteln sind.

Gerade weil der Österreich-Konvent seine wenig einladende Aufgabenstellung der Öffentlichkeit unentwegt ins Bewusstsein ruft – allen voran das postulierte Unwort vom “schlanken Staat” -, sollte es nicht unterlassen bleiben, der Dokumentensammlung ein paar widerborstige Standpunkte zu einer Verfassungsreform zu hinterlegen. Dabei war voranzustellen, dass solcherart Beiträge nicht dazu dienten, den “Sparefroh” zu einer politischen Leitfigur emporzuheben, sondern um neue Denk- und Handlungsräume zu erschließen, was für einen Veränderungsprozess eigentlich konstitutiv sein sollte.

Auch ist für das kulturelle Feld die Feststellung unerlässlich, dass der nationalstaatliche Rahmen alleine längst nicht mehr geeignet ist, die Grundlagen für die Entwicklung einer demokratischen Kultur in unserer Gesellschaft zu gewährleisten. Patriotismus erweist sich hier nicht nur aus legistischen Gründen fehl am Platz, er steht als politisches Konzept vor allem in einem unversöhnlichen Widerspruch. Denn Forderungen an eine Verfassungsreform haben sich an den Realitäten einer global vernetzten Informations- und Wissensgesellschaft zu orientieren, die das 21. Jahrhundert nachhaltig verändern wird.

Der bloße Ruf nach der Freiheit der Kunst und ihrer Ausübung reicht mittlerweile schon nicht mehr aus, um die Gefahrenpotenziale zu beschreiben, deren Eindämmung Aufgabe einer jeden konstituierten staatlichen Verantwortung sein muss. Und dabei kann eines gar nicht eindringlich genug ins Bewusstsein gerufen werden: Politische Versuche, freies künstlerisches und kulturelles Handeln einzuschränken, sind in demokratischen Systemen keineswegs überwunden. Im Gegenteil: Gerade in Österreich setzt sich die Absenkung der Hemmschwellen zu strukturellen Zensurmaßnahmen ungebrochen fort.

Und mehr noch: Kunst- und Kulturschaffende finden heute Barrieren vor, die den freien Fluss der Information und der Ideen sowie die Interaktion in Netzwerken in zunehendem Ausmaß gefährden. Dazu ein Beispiel: Der weltweite Trend zur Kontrollgesellschaft bedeutet nicht ein Mehr an Sicherheit – wie man weltweit seit September 2001 glauben machen will -, sondern zählt gegenwärtig zu den ganz besonders Besorgnis erregenden Entwicklungen, von der nicht zuletzt das kritische und nonkonforme Kunst- und Kulturschaffen ganz massiv betroffen sind. Von Freiheit als unantastbarem Gut kann keine Rede sein, solange die Mobilität der Menschen sowie der Austausch von Wissen und Information eine ungebremste Beeinträchtigung erfahren.

Gleiches gilt auch für die Macht über die Erteilung von Nutzungsrechten sowie über die Festlegung technologischer Standards in Medien und Telekommunikationsstrukturen – den wichtigsten Dömänen der Kunst und Kultur der Zukunft. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk entledigt sich zusehends seines Auftrags; freie, nicht-kommerzielle und partizipative Medienprojekte blieben von der Gesetzgebung bislang missachtet und somit inexistent; und auch um die Telekommunikationsinfrastruktur ist es aus demokratiepolitischer Perspektive äußerst schlecht bestellt. Die Politik dieses Landes hat deren Bedeutung als Ausgleichsfaktor für gesellschaftliche Differenzen von Anfang an verkannt und die Geschwindigkeit sowie die Richtung der Netzwerkgestaltung ausschließlich den großen Konzernen überlassen.

Somit steht fest: Der Fetisch von einer Verschlankung des Staates hat in den vergangenen Jahrzehnten auch in Österreich dazu geführt, dass das Kunst-, Kultur- und Geistesleben durch den Rückzug der öffentlichen Verantwortung wesentliche Grundlagen verliert. Diese Verlotterung ist hausgemacht, die Rekordwerte haben ihren Zenith allerdings noch lange nicht erreicht.

Jede Forderung, Information, Kommunikation, Wissen und Bildung sowie den freien Zugang in einen Katalog von Grundrechten aufzunehmen, muss sich darüber im Klaren sein, dass der Österreich-Konvent die politische Kultur dieses Landes nicht von seiner sich weiter trübenden Dunstglocke befreit. Der eingeschlagene Weg ist nicht ein Mittel zur Beseitigung des Smogs, sondern dient der Kritik bestenfalls dazu, die Menge der Schadstoffbelastung in ihrem aktuellen Umfang zu bemessen.

Gegenstrategien brauchen somit neben einer Portion Raffinesse noch immer ausreichend langen Atem. Er sollte zumindest so lange reichen, bis die Republik Österreich im Jahr 2005 ihr fünfzigstes Jubiläum des Staatsvertrags begeht. Dann ist der Österreich-Konvent in Vergessenheit geraten und schon der nächste aus der Generation der Väter und Großväter am Zug, um Mythen und Leidensgeschichten festzuschreiben, die wiederum von kulturellen Liebenswürdigkeiten erzählen werden. Hans Haider, langjähriger Kulturredakteur der Tageszeitung Die Presse, wurde von Bundeskanzler Schüssel zum Beauftragten für die inhaltliche Ausrichtung der Feierlichkeiten ernannt. Mit neuen Rekordwerten ist zu rechnen.

Kulturrisse