Vor der WM steht Frankreich nicht nur wegen Krieg, Energiekrise und Teuerung unter Schock. Nach verpatzter Nations League, Voodoozauberei und Verletzungsplagen gibt es wenig Hoffnung auf einen neuerlichen Titel.
Böse Kräfte bleiben gerne unsichtbar, dafür entfalten sie ihre Wirkung umso unheilvoller. Schenkt man den urbanen Legenden der französischen Vorstädte Glauben, war Kylian Mbappe von fremder Hand gesteuert, als ihm im EM-Achtelfinale 2021 gegen die Schweiz der entscheidende Elfmeter misslang – was wiederum ein blamables Ausscheiden zur Folge hatte. Der ansonsten viel gepriesene Wunderknabe der PSG-Offensive sah sich daraufhin rassistischer Häme und verachtungsvollem Spott ausgeliefert. Die dadurch verursachte Kränkung ist bei ihm auch ein Jahr später nicht abgeklungen und sollte sich fortan an neuralgischen Konfliktzonen immer wieder bemerkbar machen.
Doch sind anhaltende Verstimmungen für Frankreich nicht ungewöhnlich, der gallische Hahn, der die Trikots der Nationalmannschaft ziert, durfte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder einmal stolz sein Haupt erheben, nicht selten aber musste er auch Federn lassen. Da gerät die Schmach der WM 2002 nicht so schnell in Vergessenheit, als Frankreich bei der Verteidigung des erstmaligen Titelgewinns in der Gruppenphase eine Demütigung einzustecken hatte. Vier Jahre später wähnten sich Zinedine Zidane, Thierry Henry, Fabien Barthez und Co. vor dem Finale gegen Italien erneut dem Sieg nahe, doch aus dem Jubel unter dem Triumphbogen wurde nach einem Kopfstoß und einem verschossenen Elfmeter nichts. Noch schlimmer kam es 2010 mit dem “Fiasko von Knysna” in Südafrika. Mannschaftsinterne Querelen und offen ausgetragene Streitigkeiten mit Teamchef Raymond Domenech führten zu einem anhaltenden Ansehensverlust der “Equipe tricolore”.
Übernatürliche Erklärungen
Vor diesem Hintergrund gilt der Sieg beim WM-Finale 2018 in Moskau als Meilenstein in der Wiederherstellung der nationalen Ehre – mit all den Bürden, die ein solcher Erfolg mit sich bringt. Im Kreise einer Vielzahl von Stars liegt es an Teamchef Didier Deschamps, den schillernden Haufen auf gemeinschaftlichem Kurs zu halten. Das ist aber nicht immer so einfach, denn Turbulenzen wirbeln nur allzu oft den einen Namen an die mediale Oberfläche: Kylian Mbappe. Da kommt es mitunter vor, dass der Stürmer einem Fotoshooting der Nationalmannschaft kurzfristig die Teilnahme verweigert. Gegen seinen Willen hätte der Verband nämlich sonst seine Bilder an Werbepartner wie Fast-Food-Ketten und Wettanbieter weitervermitteln können – doch Mbappe zwang die Offiziellen zum Einlenken.
Ungleich schwieriger gestaltete sich im Spätsommer die Affäre um Mittelfeldspieler Paul Pogba, die sein älterer Bruder Mathias mit einem Twitter-Posting losgetreten hatte. Darin setzte er die Welt davon in Kenntnis, dass sein von Juventus verpflichteter Bruder vor geraumer Zeit einen Marabout damit beauftragt habe, den teaminternen Gegner Mbappe mit Voodoomagie außer Gefecht zu setzen. Schon einen Tag später erfuhr die Öffentlichkeit jedoch auch von der Erpressung, die Paul Pogba zu einer Zahlung von 100.000 Euro veranlasst haben soll. Mathias, Stürmer beim Drittligisten Belfort, sitzt seither mit seinen Komplizen in Untersuchungshaft – die durch den Vorfall ausgelöste Unruhe ist damit allerdings noch nicht ausgestanden.
In Frankreich fallen Erzählungen von übernatürlicher Zauberei schnell auf fruchtbaren Boden, wenn Ungereimtheiten wie die Pleite bei der EM im Vorjahr rational nicht mehr zu erklären sind. Tatsächlich ist Frankreich kurz vor WM-Beginn von Missgeschick und unglücklichen Vorkommnissen geplagt, die eine Verfluchung nicht ganz so abwegig erscheinen lassen. Vor allem die Anzahl der verletzungsbedingten Ausfälle gibt Rätsel auf, weshalb das Boulevardblatt “20 Minutes” Mitte September den Titel wählte: “Das ist ein Blutbad bei den Blauen!”
Platzprobleme im Sturm
Karim Benzema, Paul Pogba und Hugo Lloris standen mit ihren Langzeitblessuren zuletzt in der Nations League ebenso wenig zur Verfügung wie die Hernandez-Brüder Lucas und Theo, N’Golo Kante, Boubacar Kamara, Adrien Rabiot, Presnel Kimpembe und Corentin Tolisso. Mit einem geflickten Kader, in dem sich Nachwuchshoffnungen wie Jonathan Clauss von Olympique Marseille, Aurelien Tchouameni von Real Madrid und Benoit Badiashile von Monaco der Bewährungsprobe stellen durften, ist jedenfalls das Problem nicht gelöst, wie sich das Miteinander verbessern lässt. Die Rivalitäten, die seit Benzemas Rückkehr in das Team noch befeuert wurden, bereiten Deschamps Kopfzerbrechen. Und dann ist da ja auch noch Olivier Giroud. Er weiß zwar Fanscharen hinter sich, doch die Konkurrenz im Sturm ist groß. Der 36-Jährige muss um seine WM-Teilnahme bangen, denn neben Benzema, Mbappe, Antoine Griezmann, Kingsley Coman und Christopher Nkunku ist wenig Platz.
Frankreich träumt vom dritten Stern, von freudvoller Zuversicht ist dennoch nichts zu spüren. Stattdessen finden die Negativschlagzeilen kein Ende, wobei sich die Medien zuletzt am 80-jährigen Verbandspräsidenten abarbeiteten. Noel Le Graet sieht sich mit Vorwürfen der sexuellen Belästigung von Mitarbeiterinnen konfrontiert. Das trägt ebenso wenig zur Besserung der Stimmung bei wie der Konflikt zwischen den TV-Sendern TF1 und Canal+ zur Übertragung der WM. Und zu allem Überfluss haben wenige Wochen vor WM-Anpfiff auch noch Städte wie Paris, Marseille, Lille und Strasbourg dem Public Viewing eine Absage erteilt. Man wolle damit gegen den Gastgeber Katar protestieren, aus ökologischen und menschenrechtlichen Bedenken. Doch an der offiziellen Begründung gibt es auch Zweifel. Den Menschen wird zurzeit in Anbetracht von Teuerung und einem schwierigen Winter sehr viel abverlangt, zitiert France24 Charles Diers, den Sportbeauftragten der Stadt Angers. Kostenintensive Fanzonen, so die Befürchtung, könnten den Zorn noch weiter verschärfen – und dies umso mehr im Falle eines ausbleibenden Erfolgs.