Der Titelgewinn bei der Europameisterschaft 2022 ist für Frankreich Pflicht. Die Leistungen im Vorfeld wecken allemal Hoffnung. Interne Zwietracht und strafrechtliche Ermittlungen könnten aber noch zum Partykiller werden.
Der 4. November 2021 ist in die Geschichtsbücher eingegangen – mit Entsetzen, Abscheu und reichlich Wut. An diesem Tag war Aminata Diallo mit Kheira Hamraoui, die kurz davor ebenfalls von Paris Saint-Germain verpflichtet worden war, nach einem gemeinsamen Abendessen in den dichten Waldgebieten südwestlich der Hauptstadt unterwegs. Bis das Fahrzeug anhalten musste – und ein Kriminalfall seinen Anfang nahm.
Hamraoui wurde von zwei Unbekannten aus dem Auto gezerrt, mit einer Eisenstange attackiert und durch heftige Schläge übel zugerichtet. Der Verdacht fiel schnell auf Teamkollegin Diallo, die sich – bei dem Angriff völlig unbeschadet – dem Vorwurf ausgesetzt sah, eine klubinterne Widersacherin ausschalten zu wollen. Doch ein zweitägiges Verhör der Behörden förderte keinerlei Hinweise für diese Hypothese zutage. Stattdessen geriet Eric Abidal ins Visier der Ermittlungen. Im Smartphone von Hamraoui steckte eine SIM-Karte, die auf den langjährigen Sportdirektor des FC Barcelona und Vizeweltmeister von 2006 angemeldet war. Damit ließ sich die Affäre der beiden nicht mehr verbergen. Es folgte mediale Entrüstung, Abidals Frau reichte umgehend die Scheidung ein, doch die Hintergründe des Gewaltakts bleiben ungeklärt.
Trennende Gegensätze
Der Vorfall erreichte rasch nationale Dimensionen. PSG-Spielerinnen bilden seit geraumer Zeit einen wesentlichen Bestandteil des Nationalteams, das die ehemalige Verteidigerin Corinne Diacre seit September 2017 trainiert. Auch Diallo und Hamraoui durften regelmäßig im Trikot der „Bleues“ die „Marsellaise“ anstimmen. Unterhalb des Kragens hat der Verband seinen Grundsatz vermerkt: „Unsere Gegensätze vereinen uns!“ Doch ausgerechnet im Halbjahr vor der EM in England trübten Dissonanzen die eigentlich ansehnlichen Leistungen auf dem Rasen. Einen umstrittenen Eindruck hinterließ auch das PSG-Offensivduo Marie-Antoinette Katoto und Kadidiatou Diani am 22. Februar beim 3:1-Erfolg über die Niederlande im Rahmen des Tournoi de France.
Nach dem zweiten Tor setzten sich die beiden vor den Kameras in Pose, die Finger zu einem A geformt. Die Botschaft war schnell entschlüsselt, das Zeichen sollte ihre Solidarität mit Aminata Diallo zum Ausdruck bringen, die seit den Anschuldigungen sowohl bei PSG als auch im Nationalteam kaum noch zum Einsatz kommt. Nach weiteren Siegen über Finnland und Brasilien konnte Frankreich das Einladungsturnier klar für sich entscheiden, der Konflikt um Kheira Hamraoui, die in allen drei Spielen eingesetzt wurde, heizte die Schlagzeilen allerdings erneut kräftig an.
Wenig respektvolle Worte für die Zerwürfnisse innerhalb des Teams findet seit Längerem Noel Le Graet. Kurz nach dem Turnier ließ der langjährige Verbandspräsident in einem Interview mit der Tageszeitung Liberation seinem Unmut freien Lauf: „Sie können sich gerne an den Haaren ziehen, mir ist das egal!“ Obwohl der Unternehmer zu den treibenden Kräften des französischen Frauenfußballs zählt, äußert sich der 80-Jährige immer wieder mit sexistischen Untertönen über das Team und spricht gerne vom „Zickenkrieg“, dem er keine Beachtung schenken will.
Titel gefordert
Unbestritten hat wohl auch Le Graet die EM-Kaderbekanntgabe von Diacre am 30. Mai mit Spannung erwartet. Die Teamchefin konnte für einige Überraschungen sorgen. Schon in den vergangenen Jahren war die ausreichende Berücksichtigung von Rekordmeister Olympique Lyon stets eine heikle Angelegenheit. Heuer galt das umso mehr, da Lyon nicht nur erneut die Meisterschaft für sich entschieden hatte, sondern am 21. Mai auch das Champions-League-Finale gegen den FC Barcelona gewann. Die Bekanntgabe der 23 für die EM Nominierten schlug wie eine kleine Bombe ein, denn sowohl Amandine Henry als auch Eugenie Le Sommer werden in England fehlen. Die beiden Lyon-Stürmerinnen hatten in der Vergangenheit mit ihrer Erfahrung und ihrem Einsatz immer auch zum Ansehen des französischen Teams beigetragen. Die ohnehin gereizte Stimmung um das Nationalteam hat nach ihrer fehlenden Nominierung ein aufgeregtes Kapitel mehr. Dass die immerhin schon 32-jährige Hamraoui ebenfalls nicht dabei ist, ist ein weiteres Umbruchsignal.
Dennoch verdient die Generationenablöse ihre Chance, die Französinnen zählen sicher zu den besten Kickerinnen der Welt. Mit Aissatou Tounkara von Atletico Madrid, Griedge Mbock Bathy Nka von Lyon, Sandy Baltimore von PSG, Hawa Cissoko von West Ham und Ella Palis von Bordeaux erhält nicht nur die über den europäischen Klubfußball verstreute Jugend einen Vertrauensvorschuss. Auch die multikulturelle Zusammensetzung ist in einem Frankreich, das im April bereits zum zweiten Mal nur mit knapper Mehrheit Marine Le Pen als rechtsextreme Staatspräsidentin verhindern konnte, von gesellschaftlicher Bedeutung. Umso mehr drängt Corinne Diacre auf den ersten Titel bei einem internationalen Bewerb. „Wir holen uns am 31. Juli die Trophäe in Wembley!“, sagte sie.
Um dem Anspruch gerecht zu werden, müssen sich bis zum Turnier die Wogen der vergangenen Monate glätten. Der Anpfiff gegen Italien in der Gruppe D erfolgt am 10. Juli in Rotherham. Die Hoffnung auf ruhige Vorbereitungen ist unterdessen schon wieder getrübt. Ende Mai wurde bekannt, dass PSG seinen neuen Trainer Didier Olle-Nicolle suspendierte. Die Staatsanwaltschaft hat gegen ihn wegen des Vorwurfs sexueller Übergriffe strafrechtliche Untersuchungen eingeleitet, in den Wochen vor der EM werden auch die Spielerinnen als mögliche Zeuginnen einvernommen. Mental eine denkbar schlechte Voraussetzung, um ein Turnier für die Geschichtsbücher des Sports zu spielen.