Reingeballert

Die digitale Revolution im Fußball und ihre ikonischen Hampelmänner

Der Mensch spielt gerne – und das seit Anbeginn seiner Existenz. Mittlerweile nimmt das Spiel neue digitale Formen an und sorgt damit auch im Fußball für Verwirrungen. Ein Kommentar über die Kinder der digitalen Revolution und ihre ikonischen Hampelmänner.

So manche Stimme aus der Gehirnforschung zeigt sich alarmiert. Die Denkzentren der Kinder und Jugendlichen seien auf dem besten Wege, durch Computerspiele in Mitleidenschaft zu geraten. Eltern verzweifeln im Alltag am rotzigen Umgangston ihrer pubertierenden Sprösslinge, die sich in den Zimmern einschließen und stundenlang in virtuellen Welten auf Selbstfindung begeben. Medien warnen unterdessen nur allzu oft vor bislang nicht gekannten Gewaltanreizen, deren Gefahr für die Allgemeinheit mehr Beachtung finden müsse. Doch diese Bestandsaufnahme ist kritisch zu hinterfragen. Psychologie und Kulturwissenschaften verweisen in der Debatte um Computerspiele daher gerne auf die Ursprünge des Fußballs, die Anhaltspunkte für weniger aufgeregte Betrachtungsweisen liefern.

Spielerische Auszeit

Die massenhafte Begeisterung für das Fußballspiel veranschaulichte schon zu Zeiten der frühen Industrialisierung, dass das Ausleben individueller Ängste und Konflikte zu einem Rückgang der realen Konflikte in der Gesellschaft führen kann. Spielen hilft, die Realität besser zu ertragen und für eine kurze Auszeit in eine andere Sphäre einzutreten. Die Arbeiterschaft des ausklingenden 19. Jahrhunderts hat mit dieser Fluchtmöglichkeit aus der Monotonie des Elends zur massenhaften Beliebtheit des Fußballs beigetragen. Dass es dabei immer wieder grob zur Sache ging, gelegentlich auch die Fäuste flogen, wollten damals schon viele als Ausdruck von vielfältigen Gefühlswelten verstanden wissen, die dem Spiel einen ganz besonderen Charakter verleihen – und das bis in die Gegenwart.

Dem Gegner eine reinballern, sei es ins Tor oder auf das Nasenbein, hat bis heute nichts an Attraktivität verloren. Emotionen rund um den Rasen finden enorme mediale Aufmerksamkeit, wobei die Toleranz von Gewaltanwendung oft weiter reicht als außerhalb des Stadions. Wer etwa am Wochenende mit Schmährufen in der Fankurve in Erscheinung tritt, muss sich selten im Kreise der Familie oder am Ausbildungspatz dafür verantworten. Wer aber die persönliche Leidenschaft für Shooter-Games ausleben will, behält das am besten für sich – denn das Reinballern am Gamepad ist von Gesellschaftsfähigkeit noch weit entfernt.

Innovation und Inszenierung

Dessen ungeachtet darf sich die Marketingindustrie die Hände reiben, sind doch der Kommerzialisierung der Faninteressen kaum Grenzen gesetzt. Stars wie Lionel Messi, Neymar und Cristiano Ronaldo werden im milliardenschweren Fußballbetrieb wie auf dem Reißbrett der Kreativwirtschaft zu Individuen geformt, die als epische Heldenfiguren zu funktionieren haben. Die Auflösung des Einzelnen in einem kollektiven Team war gestern, jetzt bestimmt die Ich-Überhöhung den internationalen Wert. Sie erzeugt bei den Kickern einen anwachsenden Leistungs- und Vermarktungsdruck.

Mit dem Videospiel “FIFA” hat Entwickler EA Sports schon vor Jahren die PCs und Konsolen dieser Welt erobert. Ein Ende des Erfolgswegs ist nicht in Sicht, dementsprechend wird auch die jährliche Neuauflage immer wieder vom Staunen darüber begleitet, dass Fiktion und Wirklichkeit in den grafischen Darstellungen kaum noch zu unterscheiden sind. Das ist gut für die Verkaufszahlen und treibt das Wechselspiel von fußballerischer Marktlogik, technologischer Innovation und spielerischer Inszenierung voran.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn sich die teuer zu Markte getragenen Persönlichkeiten auch selbst der elektronischen Spielwelten bedienen. Kaum jemand verstand es, an der Popularität der digitalen Unterhaltungsmaschinerie so sichtbar mitzunaschen wie der französische Stürmer Antoine Griezmann. Beim WM-Finale 2018 in Russland konnte die Welt beobachten, wie er nach seinem Tor zum 2:1 gegen Kroatien an den Spielfeldrand stürmte, um hier einen seltsam anmutenden Tanz vorzuführen. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand waren dabei vor der Stirn zu einem L geformt. Die gezielte Verwirrung, bei der große Teile des Publikums nur rätseln konnten, entpuppte sich als ein Zitat aus dem Koop-Survival-Shooter “Fortnite”. Durch die an einen Hampelmann erinnernde Performance sollten sich die Gegner eines hinter die Ohren schreiben: “Take the Loss!” In diesem triumphalen Moment des wenig später gekürten Weltmeisters war weltweit sichtbar, was sich schon längst abgezeichnet hatte: Die Kinder der digitalen Revolution bemächtigen sich auch im Fußball der digitalen Ikonografie, für deren Wertschöpfung sie selbst Modell zu stehen hatten.

Zocken statt kicken

Vielleicht ist im Goldrausch der Vermarktung die Leidenschaft für das Spiel doch irgendwann einmal abhandengekommen. Vielleicht aber hielt auch das enge Korsett der Konventionen dem inneren Druck einfach nicht mehr stand. Was wie eine magische Verlockung, wie die Flucht ins Wunderland wirkt, birgt für die eigene Karriere aber so manche Gefahr. Der Suchttherapeut Steve Pope, der schon für Manchester United tätig war, behandelt zahlreiche Profis der Premier League. Er sagt: “Während Alkohol, Drogen und Wettsucht im Fußball unter Beobachtung stehen, fliegt Gaming unter dem Radar.” “Fortnite” trägt zum Spielfieber bei. So berichtete der Mirror im April 2019, der Tottenham-Stürmer Harry Kane habe in den letzten zwei Jahren bereits 3.362 Sessions gespielt. Wenige Monate später zeigten ihn Fotos mit seiner 22 Monate alten Tochter am Schoß beim gemeinsamen Playstation-Spielen mit dem Schweinemädchen “Peppa Pig”.

Roma-Trainer Jose Mourinho rauft sich angesichts dieses Trends die Haare. Als er vor Kurzem zu den Computerspielern im Fußball befragt wurde, antwortete er nur: “Ein Albtraum.” Eine Einschätzung, die vom französischen Teamchef Didier Deschamps wahrscheinlich geteilt wird. Nach der EM-Achtelfinalniederlage gegen die Schweiz berichteten Medien, dass sich seine Mannschaft die Nächte mit “Fortnite” um die Ohren geschlagen habe, was schließlich zu mentalen und körperlichen Beeinträchtigungen geführt habe.

Der Fußball wird sich noch viel intensiver mit der Thematik befassen müssen, denn der spielende Mensch ist nicht mehr wegzudenken. Als homo ludens wird er an den Schnittstellen von emotionalen Fankulturen und elektronischem Gamedesign auch in Zukunft für das eine oder andere Reinballern zu begeistern sein.

ballesterer fm