Dorf TV: “Wir dürfen nicht niedlich sein”

Über Zensur, gefährliche Quotenvorgaben und das Peter-Pan-Syndrom in eigenen Reihen

Erst unlängst wurde Martin Wassermair von einer ihm fremden Person angesprochen: “Es war acht Uhr früh, ich stehe am Postamt in der Schlange, auf einmal kommt eine ältere Frau auf mich zu und sagt: ,Ich kenne Sie von Dorf TV. Ich möchte Sie ersuchen, bleiben Sie bitte so, wie Sie sind, denn das, was ich von Ihnen sehe, ist gelebte Demokratie.’ Da kann ich fast nur heulen, weil eine schönere Bestätigung gibt es für mich nicht.” Wassermair ist seit 2016 streitbarer Leiter der Politredaktion des Linzer Communitysenders, einer von insgesamt drei nichtkommerziellen TV-Stationen in Österreich. In seiner Sendung lädt er Gäste ein, mit denen er mitunter kontroversiell diskutiert. Seit kurzem ist Wassermair Vorstandsmitglied bei Reporter ohne Grenzen.

STANDARD: Angriffe von Politikerinnen und Entscheidungsträgern gegen unliebsame Journalisten mehren sich. Spüren Sie mit Ihrer Politsendung, die ja auch gegen den Strom schwimmt, auch einen raueren Wind?

Wassermair: Wir bemerken eine Form von Zensur und Informationsverweigerung. Bestimmte Politiker kriege ich nicht zu mir in die Sendung. Martin Hajart von der ÖVP sagt: “Ich komme nicht zu dir ins Studio, weil du bist immer so böse zur ÖVP.” Kritische Fragen zu stellen wird als böses Fehlverhalten gedeutet. Ich führe das auf die durchaus sehr provinziellen Lebensrealitäten hier in Linz zurück.

Beim freien Sender Dorf TV können sich Menschen in Medien ausprobieren.
Beim freien Sender Dorf TV können sich Menschen in Medien ausprobieren.
Dorf TV

STANDARD: “Die grundsätzliche Idee der Bürgermedien ist einfach: Bürger/innen haben ein Thema, greifen selbst zu Kamera und Mikrofon, produzieren einen Radio- oder Fernsehbeitrag und gestalten so ihr eigenes Programm”, lautet eine Definition für freie Medien. Manche meinen, das leisten mittlerweile soziale Medien genauso gut. Welche Berechtigung haben freie Medien heute?

Wassermair: Freie Medien sind für mich in erster Linie nichtkommerzieller Rundfunk. Was hier beschrieben ist, erinnert mich sehr an die Frühzeit des Mediums, als Ende der 1990er-Jahre in Österreich mit der Liberalisierung des Rundfunks erstmals freie Radios entstanden sind. Da war noch nicht von Social Media die Rede. Damals war das eine wichtige Möglichkeit, Demokratie zu stärken, Menschen im medialen Kontext eine Möglichkeit zu geben, sich zu beteiligen, sich zu artikulieren und damit zu verstehen zu geben, wir sind hier, wir wollen uns an verschiedenen Meinungsprozessen aktiv beteiligen. Das muss man heute hinterfragen, weil sich die Medienwelt unter digitalen Vorzeichen radikal verändert hat. Die Illusion des Internets als freier, demokratischer Raum ist zerplatzt. Von den sozialen Medien haben wir uns Freundschaften versprochen, letztendlich haben wir uns in einer Bubble wiedergefunden, in der man nur unter seinesgleichen bleibt. Wir von den Communitymedien sehen uns dazu aufgefordert, diese Entwicklungen genau zu betrachten und zu analysieren: Was passiert da in der Medienwelt? Die Bedeutung dieser partizipativen Medien ist sogar gewachsen, weil wir um diese digitale Technologieentwicklung wissen und sie thematisieren. Genau dort müssen wir ansetzen und uns positionieren. Wir dürfen nicht wie ein Kaninchen vor der Schlange erstarren.

STANDARD: Passiert das?

Wassermair: Das ist meine Kritik am nichtkommerziellen Rundfunk. Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie sind. Junge Menschen sind nun einmal in dieser digitalen Welt, also müssen wir sie dort ansprechen. Wir können bei aller notwendigen Kapitalismus- und Technologiekritik Social Media verwenden, ohne dass wir uns die Finger schmutzig machen.

Martin Wasermair leitet die Politik-Redaktion des freien Linzer TV-Senders Dorf TV.
Martin Wassermair leitet die Politik-Redaktion des freien Linzer TV-Senders Dorf TV.
Zoe Goldstein

STANDARD: Skeptikerinnen und Kritiker der partizipativen Medien sind der Meinung, keiner schaut sie, also braucht sie auch keiner. Was sagen Sie denen?

Wassermair: Das ist eine gefährliche Diskussion, weil das im Umkehrschluss heißt, Massenmedien wie Gratiszeitungen haben die hohe Quote, und wer braucht sie? ORF 3 stellt niemand infrage, ich habe keine Evidenz, aber mein Eindruck ist, dass Dorf TV den Rezeptionsgrad von ORF 3 in Oberösterreich allemal erreichen kann. Am Ende des Tages müssen wir uns von diesen Rechnungen verabschieden. Die Relevanz dessen, was wir tun, resultiert aus anderem: Inwiefern sind wir demokratiepolitisch relevant? Wie vielen Menschen, die von niemandem wahrgenommen werden, gebe ich die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken. Über Asylwerbende wird tagein, tagaus wahnsinnig viel geschrieben, meistens mit negativer Tonalität. Aber wo haben denn Asylwerbende in Österreich die Möglichkeit, wirklich Gehör zu finden?

STANDARD: Die Regierung bemüht sich in Sachen Medienpolitik, einiges weiterzubringen. Stichwort Medienförderung, ORF-Gesetz, Digitalnovelle. Von den freien Medien ist wenig bis gar nicht die Rede. Fühlen Sie sich übergangen?

Wassermair: Grundsätzlich ist jede medienpolitische Debatte absolut zu begrüßen. Ich glaube aber, die Diskussion, die aktuell medienpolitisch geführt wird, dreht sich ausschließlich um die ökonomischen Fragen der Existenzsicherung der hier genannten Medien. Der nichtkommerzielle Rundfunksektor hätte sich da noch viel aktiver und selbstbewusster in die Debatte einbringen können. Immer wenn es um die Finanzierungsgrundlagen der Medienlandschaft geht, fehlt der wichtigste Aspekt: Welche Funktion wollen wir dieser Medienlandschaft geben? Die wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit sind, dass wir alles tun müssen, um eine funktionierende Demokratie sicherzustellen, dass wir eine pluralistische Gesellschaft sicherstellen, dass die vielen Interessen, Gegensätze und Konflikte einen medialen Raum haben. Wenn ich mir unter diesen Aspekten anschaue, was aktuell an Gesetzen vorliegt, welche Stellungnahmen es dazu gibt, dann sehe ich, dass diese Herausforderungen überhaupt nicht abgebildet sind. Dann heißt es schnell: Ihr von den Nichtkommerziellen könnt das ja hineintragen. Das ist nicht ganz so einfach, weil wir zwar viel tun, aber wir sind die ressourcenschwächsten Teilnehmer auf diesem Feld. Wir können gar nicht so drauflostrommeln, wie es uns notwendig erscheint.

STANDARD: Am Beispiel von Okto sah man, dass der Wert nichtkommerzieller Medien nicht von allen gleich hoch geschätzt wird. Was erwarten Sie für eine nächste Regierung?

Wassermair: Okto ist in der Existenz nicht gefährdet. Okto wurde eine Finanzierung der Stadt Wien gestrichen, auf die sie jahrelang bauen konnten. Hinzugekommen ist, dass Okto von der Erhöhung des nichtkommerziellen Rundfunkfonds profitiert. Um Okto mache ich mir keine Sorgen, denn Okto bleibt am Ende des Tages immer noch größer und besser ausgestattet als Dorf TV oder FS 1. Die Frage, die wir uns alle viel eher stellen sollten, ist: Wo sehen wir die großen Herausforderungen der Zeit, wenn wir davon überzeugt sind, gesellschaftlich wirksam sein zu müssen? Sollen wir die ganze Welt retten, oder sollen wir uns gewisse Ausschnitte anschauen, wo es besonders unter den Nägeln brennt, wo sich soziale, gesellschaftliche Verwerfungen besonders deutlich abspielen? Wir wissen zum Beispiel, eine der wichtigsten Aufgaben von Medien sollte sein, gerade in demokratischer Hinsicht zu einer Art Meinungsbildungsprozess in einer Gesellschaft beizutragen. Wir sollten Menschen Räume zur Verfügung stellen, in denen sie lernen, sich selbst eine Meinung zu bilden, eine Auseinandersetzung zu führen, ohne Angst zu kriegen, dass alles in sich zusammenstürzt. Das Wichtige ist ja auch, dass Menschen das Gefühl bekommen, dass es Alternativen gibt zu diesem Abgedrängtwerden. Das Gefährlichste im Moment ist, dass Menschen sich vom politischen Leben völlig abwenden. Die haben jede Hoffnung und Vertrauen verloren. Andere Medien schauen völlig untätig zu. Wir müssen nicht nur hinschauen, sondern wir müssen auch viele Augen einladen, den Blick darauf zu richten, eine Community aufbauen. Dann entsteht eine Vielheit, die eine Hoffnung verwirklichen kann, dass es Alternativen gibt zu dieser Entrückung.

STANDARD: Kritik kommt aber genau dazu, dass sich der nichtkommerzielle Rundfunk in seiner Blase versteckt und solche Dinge überhaupt nicht leistet.

Wassermair: Wir müssen alle selbstbewusster sein. Ich beobachte eine Art Peter-Pan-Syndrom, indem man sich in seiner Blase sehr gut aufgehoben fühlt. Wir dürfen aber nicht niedlich sein, wir dürfen uns niemals damit begnügen, niedlich zu sein zu wollen, nur weil wir uns dadurch weitere Förderungswürdigkeit erhoffen. Wir müssen unangenehm sein. Es hat schon einen Grund, warum ich mein Hauptformat “Der Stachel im Fleisch” nenne, weil genau das will ich sein. Ich will schon ein bisschen wehtun, ich will Kritik artikulieren, die ich in vielen anderen Formaten anderer Medien total vermisse. Es gibt viele Talkshows, gleichzeitig stelle ich einen enormen Verdruss an diesen Formaten fest. Es gibt bei vielen Polittalkshows keine Überlegung mehr, was ich am Ende des Tages mit diesem Format erreicht haben will. Da werden die immergleichen Nasen eingeladen unter der falschen Vorgabe, dass das irgendwie repräsentativ sei für die Gesellschaft. Nein, es sind immer die Gleichen. Es ist überhaupt keine Vielzahl der Interessengruppen und Betroffenen abgebildet.

STANDARD: Was unterscheidet Sendungen wie “Der Stachel im Fleisch” oder “Mit Biss” von anderen?

Wassermair: Wir wollen kleinere, regionale Prozesse sichtbar machen und jene zu Wort kommen lassen, die einerseits politisch darüber zu befinden haben oder davon betroffen sind. Linzer Stadtpolitikerinnen oder -politiker haben praktisch nie die Möglichkeit, bei “Im Zentrum” eingeladen zu werden. Trotzdem ist es wichtig, dass sie sich der lokalen Diskussion stellen, und zwar nicht nur drei Minuten, sondern länger und tiefergehender. Diese Räume kann nichtkommerzieller Rundfunk bieten. Wenn das gelingt, ist das fast die halbe Miete. Wenn man dann auch noch eine gewisse Regelmäßigkeit erzielt, sodass ein Pluralismus sichergestellt wird, sind wir auf einem guten Weg im Hinblick auf Demokratie. Dann ist nicht Hopfen und Malz verloren. (Doris Priesching, 11.7.2023)

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