Frankreich verfügt über eine der besten Nationalmannschaften der Welt. Die EM könnte ihr zum 120-jährigen Jubiläum ein großes Geschenk bescheren. Doch dafür ist einmal mehr das Zusammenspiel ihrer Taktgeber erforderlich.
Frankreich setzt seit jeher auf Strahlkraft und zehrt noch immer vom Selbstbild der Überlegenheit. Das stellt auch im Fußball niemand gerne infrage. In den Augen der Fans haben Kylian Mbappe, Antoine Griezmann und Olivier Giroud ihren Platz auf dem Podest ganz oben, sie werden gerade in Krisenzeiten als Ikonen des Triumphs hochgejubelt. Darin liegt aber auch schon wieder das Problem. Nach einer nahezu tadellosen EM-Qualifikation mit sieben Siegen und nur einem Unentschieden festigte sich der Eindruck, das Team sei nicht zu schlagen. Da geriet selbst die Niederlage gegen Argentinien im WM-Finale 2022 in Vergessenheit.
Doch dann passierten in der Vorbereitung zur EM die Fauxpas, die gefürchteten Fehltritte, die nicht nur am Image kratzen, sondern auch die Zuversicht erschüttern. Gegen Deutschland setzte es bei Testspielen zwei Niederlagen, und das, obwohl der Nachbar zu dieser Zeit schwere Turbulenzen zu durchlaufen hatte. Unter Interimstrainer Rudolf Völler bezwangen die Deutschen im September 2023 die Franzosen in Dortmund 2:1, ein halbes Jahr später unter Neo-Teamchef Julian Nagelsmann 2:0 in Lyon.
Fixstarter Griezmann
Die Niederlagen demontierten den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Dabei waren Negativschlagzeilen in den vergangenen Jahren seltener geworden. „Wir haben zwei sehr unglückliche Umfaller gesehen“, sagt Syanie Dalmat, Fußballredakteurin der Tageszeitung L’Equipe. „Offensichtlich hat die Mannschaft das Fehlen von Antoine Griezmann unterschätzt, der nicht nur als Bindeglied zwischen Mittelfeld und Angriff das Spiel macht, sondern auch als Metronom unverzichtbar ist.“ Tatsächlich beendete Griezmanns kurze Verletzungspause im Frühjahr eine Serie von 84 kontinuierlichen Einsätzen seit Juni 2017 im Nationaltrikot.
Das Langzeitgedächtnis fördert darüber hinaus zutage, dass Frankreich im Vorfeld großer internationaler Turniere immer wieder Enttäuschungen erleben muss. Kurz vor der WM in Russland 2018 gewann Kolumbien im Stade de France ein Freundschaftsspiel 3:2. Drei Jahre später reichten die Leistungen gegen Bosnien-Herzegowina und die Ukraine in der WM-Qualifikation für 2022 gerade einmal für zwei 1:1-Unentschieden auf heimischem Boden.
Dennoch bleibt die Hoffnung ungetrübt. Sie stützt sich auf Didier Deschamps, der die Nationalmannschaft seit 2012 trainiert und seither in Pflichtspielen 97 Siege, 27 Unentschieden und 26 Niederlagen verzeichnen darf. Angesichts dieser Bilanz, das bestätigt auch Dalmat, keimen kaum Zweifel auf. „Bei den letzten vier großen Turnieren hat Deschamps dreimal das Finale erreicht, dazu kommt noch der Sieg in der Nations League 2021.“
Kein Konservativer
Zudem ist im Team endlich die ersehnte Ruhe eingekehrt. Hatte Karim Benzema als umstrittener Rückkehrer den Kader bei der EM 2021 aus dem Gleichgewicht gebracht, so konnte nach dessen endgültigem Ausscheiden eine weitgehend konfliktfreie Ordnung wiederhergestellt werden. Diese war im März 2023 erstmals auf die Probe gestellt, als Deschamps dem 24-jährigen Mbappe die Kapitänsschleife übertrug und der deutlich erfahrenere Griezmann den Kürzeren zog. Doch beide machten der besorgten Öffentlichkeit klar, dass sie sich auf das Zusammenspiel der Taktgeber verlassen dürfe.
Ein friktionsloses Zusammenspiel zwischen den beiden Weltmeistern von 2018 ist Voraussetzung, damit die allmähliche Verjüngung der als EM-Favoritin gehandelten Mannschaft keine Erfolgseinbrüche nach sich zieht. Während Topspieler der vergangenen Jahre wie Hugo Lloris, Paul Pogba und Raphael Varane nicht mehr im Team zu sehen sind, treten Nachwuchsstars wie Tormann Mike Maignan, Mittelfeldspieler Warren Zaire-Emery und Stürmer Moussa Diaby in ihre Fußstapfen. Das verlangt nicht nur den Jungen mental eine Menge ab. Auch Deschamps ist gefordert, Weichenstellungen für eine aussichtsreiche Zukunft vorzunehmen. Aus diesem Grunde ist nicht verwunderlich, dass der 21-jährige Flügelspieler Bradley Barcola, bei PSG der Jungspund der Stunde, für die EM-Auswahl immer öfter Erwähnung findet. „Ich bin nicht konservativ“, sagte Deschamps Ende April in einem AFP-Interview, „und treffe keine Entscheidungen, bei denen ich mich frage, was die Leute davon halten werden. Wenn ich der Meinung bin, dass ich im Interesse der französischen Nationalmannschaft etwas anders machen muss, dann mache ich es anders.“
Mbappes Motivation
Die EM fällt in einen Zeitraum, in dem die Mannschaft das 120-jährige Jubiläum ihres Bestehens feiert. Das erhöht die Erwartungen und setzt das Starensemble zusätzlich unter Druck. In der Gruppe D trifft Frankreich auf Österreich, Polen und die Niederlande, also allesamt achtenswerte Gegner, die dem Team aber eigentlich liegen müssten, wie Dalmat sagt. „Doch dafür gilt es, die defensive Stabilität wiederzufinden, was in den Begegnungen mit Deutschland zuletzt nicht der Fall war. Mit der Rückkehr von Griezmann und einem Mbappe in Form hat man zudem zwei unschätzbare Trümpfe in der Hand.“ Es bleibt spannend, wer aus dem Luxuskader des Weltranglistenzweiten letztlich beim Kampf um den Finaleinzug am 14. Juli im Berliner Olympiastadion zum Einsatz kommen wird. Mit Eduardo Camavinga, Youssouf Fofana, Theo Hernandez, Ibrahima Konate, Benjamin Pavard, Aurelien Tchouameni und Dayot Upamecano kann der Verband in der Abwehr und Mittelfeld weitere große Talente nominieren, ebenso wie mit Ousman Dembele, Randal Kolo Muani und Marcus Thuram in der Offensive.
Und dann ist da noch Publikumsliebling Olivier Giroud. Er zählt zu den Dienstältesten im Team und ist immer noch für Überraschungen gut. Auf ihn sind die Augen bei einem großen Wettbewerb vielleicht ein letztes Mal gerichtet. Noch im Sommer, so verdichten sich die Gerüchte, will er nach Kalifornien zum Los Angeles FC wechseln. Für viele ist allerdings entscheidend, ob Kylian Mbappe mit ausreichender Motivation in das Turnier in Deutschland gehen wird. In Frankreich glaubt man fest an seinen Ehrgeiz – und das schon allein deshalb, weil er den EM-Titel dringend benötige, um sich noch nachdrücklicher für Real Madrid zu empfehlen.