Randerscheinungen

Kulturgeschichte ohne Zeitenwende des Denkens

Im 19. Jahrhundert trugen einflussreiche Geistesgrößen wie Victor Hugo und Alexis de Tocqueville maßgeblich zur Unanfechtbarkeit der in dieser Epoche vorherrschenden Überzeugung bei, dass Menschen dunkler Hautfarbe geschichtslose Kreaturen seien, ohne jeden Verstand und damit vor allem auch nicht dazu in der Lage, irgendetwas Universelles hervorzubringen. Damit formierte auch die aufgeklärte Kritik der reinen Vernunft für den weiteren Weltenlauf fatale Ränder, in deren politischen und gesellschaftlichen Innenräumen universelle Akte wie Solidarität und die Achtung der Menschenwürde schlicht nicht vorgesehen waren – mit dramatischen Folgewirkungen bis in die Gegenwart.

Denn zwei Jahrhunderte später kehren die geächteten Randerscheinungen auf jene Bühne zurück, die es nicht zuletzt auch durch das intellektuelle Zutun auf Gedeih und Verderben zu verteidigen gegolten hat. Es sind bereits Tausende, Hunderttausende, Millionen. Das postkoloniale Zeitalter erstarrt seither in Angst und Schrecken. Die auf tief verinnerlichtem Rassismus gebauten Zentren verkriechen sich innerhalb ihrer Wagenburg, um sich der Geister, die sie gerufen haben, ein für allemal zu entledigen – in Österreich, in Europa und auch darüber hinaus. Und tatsächlich führt das große Sterben die beunruhigende Regie.

Die Anzahl jener Menschen, die vor sozialem Elend, Hunger, Krieg und Klimakatastrophen verzweifelt Zuflucht suchen, wächst unablässig an. Während sich die Öffentlichkeit bereits gefährlich an die vielen Toten im Mittelmeer zu gewöhnen scheint, tritt das politische Europa den ungezählten Leichenbergen mit gleichgültiger Duldung und immer neuen militärischen Maßnahmen zur Sicherung der Grenzen gegenüber. Das Totalversagen der EU-Staaten macht sich nicht nur der Missachtung von Menschenrechten und der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, sondern verstellt auch immer mehr den Blick auf die Ursachen und Hintergründe der Flucht.

Damit verschiebt sich die erforderliche Perspektive wieder an die Ränder. Denn tatsächlich sind die wohlhabenden Länder des Nordens maßgeblich dafür in die Verantwortung zu nehmen, weshalb Menschen ihre vertraute Umgebung verlassen, um unter größtem Risiko in eine bessere Zukunft aufzubrechen. Eine seit langem zweifelhafte  Entwicklungspolitik, das oftmals kriegerische Durchsetzen von Wirtschaftsinteressen, die Beteiligung an den korrupten Profiten zahlreicher Diktaturen, die Steuerflucht global agierender Konzerne sowie der Raubzug an den natürlichen Ressourcen und dem kulturellen Reichtum in der südlichen Hemisphäre rücken insbesondere die Frage in den Fokus, wie diesen unsäglichen Realitäten Einhalt geboten werden kann.

Wichtige Denkanstöße finden sich dazu unter anderem bei Achille Mbembe, einem in Kamerun geborenen Politikwissenschafter und aufgrund seiner radikalen Töne nicht unumstrittenen Schrittmacher der postkolonialen Diskurse. Er verdeutlicht in seinem neuen Werk “Die Kritik der schwarzen Vernunft” den dichotomen Zusammenhang des Rassismus mit einem global umspannten und phallokratischen Kapitalismus, durch den sich die Menschen – nicht nur, dafür aber umso furchtsamer – in Europa in Gefahr wähnen, in den Sog einer durch undurchschaubare Finanzmärkte gesteuerten Degradierung zur Provinz zu geraten. Denn was bleibt von einer durch Randerscheinungen bedingten Überlegenheit, wenn die Überlegenen nunmehr selbst zur Randerscheinung einer unnachgiebigen Kolonialherrschaft verkommen? Wie auch immer, die gesichtslosen Unterdrückten, Diskriminierten und Ausgeschlossenen müssen wohl endlich an ihren Rändern zueinander finden. Hier tun sich ihnen schließlich Orte auf,  an denen sie, wie Mbembe schreibt, “in Solidarität mit der gesamten Menschheit” treten – zur Universalisierung ihres gemeinsamen Kampfes gegen jede imperiale Form der Unterwerfung der menschlichen Gemeinschaft.

gfk-Magazin