Kontrollore des Willens

Schutzzonen, Intensivierung der Videoüberwachung - wem nützt das, woher kommt das? - Ein Kommentar der anderen

Wer in die USA einreist, muss sich biometrisch erfassen lassen. Hinter den Kassen der Kaufhäuser steht auch in Wien immer häufiger privates Wachpersonal, das Einblick in unsere Taschen verlangt. Und wer über den Karlsplatz geht, kann seit einigen Tagen polizeilich aufgefordert werden, das zu unterlassen. Selbstverständlich dient all dies nur unserer Sicherheit – und der unserer Kinder, die vielleicht die Schule am Karlsplatz besuchen. Anständige Bürger und Bürgerinnen stören diese Kontrollen nicht, denn sie haben ja nichts zu verbergen. Deshalb freuen sie sich auch über die Absicht der Stadt Wien, jetzt auch innerhalb der U-Bahnen Videoaufzeichnungen anzufertigen.

Diejenigen, die sich gegen diese Zunahme der Einschränkungen aussprechen, sehen sich immer häufiger selbst Verdächtigungen ausgesetzt, als potenziell Kriminelle, die nunmehr an ihren Absichten gehindert werden. Diese Form der Rechtslehre nennt sich Willensstrafrecht – der Staat wird nicht erst nach erfolgter Straftat tätig, sondern bereits präventiv; der vermeintliche Wille zum Rechtsbruch reicht dazu aus. Die Einführung des Willensstrafrechts war eine der wesentlichen Änderungen der deutschen Rechtsordnung durch das  NS-Regime und die Legitimation der Verwahrung unbescholtener Personen in Gefängnissen, Heimen und Lagern. Das Willensstrafrecht steht vor einer zentralen Frage: Wie lässt sich der Wille zur Straftat erkennen?

Der Nationalsozialismus widmete sich diesem Problem sehr umfangreich und beauftragte die Wissenschaft, Schädelvermessungen und Physiognomiebestimmungen zu erarbeiten. Nachwirkungen sind bis in die Gegenwart zu erkennen. In Österreich ist die Hautfarbe ein wichtiges Erkennungsmerkmal des potenziellen Rauschgifthandels.

Welche “Tatsachen”?

Am Beginn des 21. Jahrhunderts reicht dunkle Haut bereits als Grund für eine vorübergehende Inhaftierung aus. Aber so steht das natürlich nicht im Sicherheitspolizeigesetz. Dort ist die Rede von Menschen, von denen “aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass sie strafbare Handlungen nach dem Strafgesetzbuch, dem Verbotsgesetz oder gerichtlich strafbare Handlungen nach dem Suchtmittelgesetz begehen werden”. Was mögen diese Tatsachen sein? Die zuständigen Organe sehen sich jedenfalls durchaus in der Lage, diese zu bestimmen: “Wir kennen ja unsere Stammkunden, und sie kennen uns”, sagt dazu ein Polizist im STANDARD-Interview (15. 2. 05). Sicherheit vor Übergriffen ist für alle wichtig. Sicherheit vor staatlichen Übergriffen ist konstitutiv für die Demokratie. Und Demokratie ist bekanntlich ein Konzept, das alle Mitglieder der Bevölkerung umfasst – solche, von denen aufgrund (un)bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass sie strafbare Handlungen begehen werden (und selbstverständlich auch solche, die strafbare Handlungen bereits begangen haben) und solche, von denen das (aufgrund ebenso unbestimmter Tatsachen) nicht anzunehmen ist. Demokratie umfasst aber nicht nur individuelle Rechte, sondern bedarf auch gesamtgesellschaftlicher Vorbedingungen wie freier Raum für demokratische Öffentlichkeit. Diese/r wird derzeit deutlich enger – Bahnhöfe werden Einkaufszentren, die ihr privates Territorium mit Sicherheitsdiensten verteidigen, Straßen mutieren zum Vorplatz von Geschäften, auf denen zu unterlassen ist, was den Geschäftsbetrieb stört. Und Zonierungen schreiben vor, wer welchen Teil des öffentlichen Raums benützen darf.

Österreich feiert in diesem Jahr mit großem Getöse diverse Jubiläen. Die Befreiung vom NS-Regime durch die Alliierten im Jahr 1945 sollte dabei eigentlich besondere Beachtung finden. Dessen Ausgangspunkt war der Ausschluss großer Teile der Bevölkerung aus der Öffentlichkeit und die kontinuierliche Ausweitung staatlicher Kontrolle. Umso mehr sollten wir im “Gedankenjahr” über die historischen Entwicklungen nachdenken und entsprechende Rückschlüsse für die Politik der Gegenwart ziehen