Im Herbst 2002 lag Österreich im “Wahlkabine”-Fieber: Ob auf den zahlreichen Websites, die den rund 250.000 ErstwählerInnen Politik und damit den Schritt zur Wahlurne schmackhaft machen wollten, in den Link-Sammlungen von NGOs und zivilgesellschaftlichen Initiativen, im E-Mail-Newsletter einer Diabetes-Selbsthilfegruppe oder in der KlientInneninformation eines Steuerberaters – der Hinweis auf die “Wahlkabine” durfte nicht fehlen. wahlkabine.at ist zwischen 10. Oktober und 24. November 2002 insgesamt 448.875-mal aufgerufen worden und war damit die erfolgreichste Online-Wahlhilfe Österreichs. Und am Abend des Wahltages vertraute eine junge Vorarlbergerin dem Publikum vor laufender Kamera an, dass nicht zuletzt auch die “Wahlkabine” für ihre Wahlentscheidung einen wesentlichen Ausschlag gegeben hatte.
8.1 Abseits politischer Inszenierungen
Was aber hat dieses Wahlhilfe-Instrument mit seinem poppigen, orangefarbenen Layout in Form einer stilisierten Wahlzelle im Internet so erfolgreich gemacht? Schließlich hat wahlkabine.at – vom spielerischen Charakter des Tools abgesehen – keines der Versatzstücke aus dem Fundus der politischen Inszenierung und Theatralik geboten, wie sie nach landläufiger Meinung bei den MedienkonsumentInnen so begehrt sind: Weder ist es um das Erscheinungsbild der SpitzenkandidatInnen, deren Kompetenz, politischen Stil oder Image-Management gegangen (vgl. Plasser/Ulram 1996, 27 und 85) noch um den taktischen Einsatz von Meinungsforschung zur Beeinflussung öffentlicher Meinung (vgl. Plasser 1993, 410).
Die Gründe für den Erfolg der “Wahlkabine” sind vielfältig. Zuallererst aber liegen sie sicherlich im Interesse der potentiellen Wählerinnen und Wähler an politischen Inhalten, das auch in der von professionellem politischen Marketing bestimmten (vgl. Filzmaier 1999, 208) sogenannten “Tele-Demokratie” prinzipiell vorhanden ist. Zwar haben Plasser/Ulram bereits Mitte der 90er Jahre festgestellt, dass der Anteil kandidatenorientierter Image-WählerInnen in Österreich auf über 50% gestiegen ist (1996, 87), dass politische Botschaften, mediengerecht “zu sound-bites verknappt”, einer 30-Sekunden-Logik zu folgen hätten und im Zuge medienwirksamer hochgradiger Personalisierung der Berichterstattung und eines “horse-race-journalism” mit Tendenz zu sportlicher Dramatisierung der “politische Wettbewerb als personalisierte Elitenkonkurrenz” und als Wettrennen zwischen KandidatInnen und Parteien definiert und wahrgenommen würde (ebd., 89f., 99, vgl. auch Filzmaier 1999, 197). Es scheint jedoch, dass – jenseits der Dramatik eines stilisierten “Kopf-an-Kopf-Rennens” und der Politikvermittlung durch Personalisierung – auch die Auseinandersetzung mit politischen Inhalten und Sachfragen und das reflexive Spiel mit den zur Entscheidung anstehenden Wahlmöglichkeiten Interesse und Spannung bei den WählerInnen erwecken können. Letztlich steht ja auch die empirische Wahlverhaltensforschung den Effekten der Personalisierung zurückhaltend gegenüber und sieht die unmittelbare Wirkung der KandidatInnen und die Bedeutung einzelner Medienereignisse nur als Teil eines ganzen Bündels von Einflussfaktoren auf die subjektive Wahlentscheidung (vgl. Plasser/Ulram 1996, 27, Plasser/Seeber/Ulram 2000, 77 und 107ff.). In der Praxis von wahlkabine.at wurde dies in einem Falle sehr drastisch zum Ausdruck gebracht: “finde ich eine sehr gute Leistung die sie da gemacht haben”, teilte ein User dem Redaktionsteam mit, “hilft mir allerdings in keiner weise zu entscheiden, ob ich überhaupt hingehe und einen dieser operetten-idioten wähle.”
Zwar ist im internationalen Vergleich der Prozentsatz jener Österreicherinnen und Österreicher, die über ein aktives staatsbürgerliches Selbstbild verfügen, noch immer eher gering. Ein kontinuierlicher Anstieg des politischen Interesses und der politischen Involvierung der österreichischen Bevölkerung hat aber dazu geführt, dass sich die österreichische Situation in dieser Hinsicht kaum mehr von der in anderen westeuropäischen Demokratien unterscheidet. Für erhöhte politische Apathie und/oder Politikverdrossenheit finden sich in den vorliegenden Daten (2001, www.zap.or.at/20102507.html) keine Anhaltspunkte. Kompetente, gut ausgebildete und qualifizierte Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nutzen als selbstbewusste zivilgesellschaftliche Akteur/inn/en die Ausweitung der politischen Informationsangebote in den Massenmedien und geben sich mit der für so genannte “Untertanenkulturen” typischen loyalen Klientenrolle nicht mehr zufrieden: “Immer mehr Österreicherinnen und Österreicher beteiligen sich am politischen Kommunikationsprozeß und verfügen über die Fähigkeit, das politische Geschehen zu strukturieren und sich eigene Meinungen und Urteile zu bilden” (ebd.) Jede/r Dritte verfolgt das politische Geschehen mit sehr starkem oder starkem Interesse. 31 Prozent der politisch sehr Interessierten besprechen politische Themen auch häufig im Freundeskreis, weitere 63 Prozent zumindest gelegentlich. 32 Prozent der ÖsterreicherInnen können als “Interessierte Beobachter” beschrieben werden, die ein ausgeprägtes politisches Interesse mit der regelmäßigen Nutzung politischer Berichterstattung verbinden (www.zap.or.at/20102501.html). Dennoch nehmen die österreichischen Medien und die österreichische Politik das Interesse der BürgerInnen an politischen Inhalten viel zu wenig zur Kenntnis und fördern es auch nicht. Die Erfahrungen mit wahlkabine.at zeigen aber, wie mit der Entwicklung einer Online-Wahlhilfe das Interesse einer breiten Öffentlichkeit an politischen Fragestellungen und Sachthemen sehr wohl unterstützt und politische Diskussionen angeregt werden können.
8.2 Neue Medien und politisches Bewusstsein
Der Entschluss des Wiener Instituts für Neue Kulturtechnologien/t0 (besser bekannt als Public Netbase), schon wenige Tage nach Auflösung des Kabinettes Schüssel I im Herbst 2002 mit einem Online-Projekt zur öffentlichen Auseinandersetzung um die bevorstehende Nationalratswahl am 24. November des Jahres beizutragen, kam zwar sehr spontan, war aber keineswegs aus der Luft gegriffen.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen aus der langjährigen gesellschaftspolitischen Arbeit an der Schnittstelle von Kunst und Kultur zu neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zählt das Wissen um die zunehmende Kommerzialisierung des Mediums Internet, mit der auch die Hoffnung auf stärkere Politisierung durch eine emanzipierte Nutzung längst ernüchtert worden sind. Auch für das WorldWideWeb gilt Vulners (2000, 141) skeptischer Befund, dass sich seit dem ersten Entwicklungsschub der elektronischen Medien die Hoffnungen einer kritischen Gesellschaftstheorie auf eine “Entfesselung von Demokratisierungspotenzialen” und auf die Rolle der neuen Medien “als Bewusstseins-Katalysatoren” nicht erfüllt haben. Das Surfen im Internet sowie das Versenden von E-Mails haben zwar auch in Österreichs Haushalte Einzug gehalten, ein Qualitätsschub in der Content-Produktion ist jedoch nicht eingetreten. Tatsächlich sind gerade auch die Online-Medien dem Trend einer zunehmenden Boulevardisierung und Personalisierung von Politik gefolgt.
Dabei bildet vor allem ausreichende und zuverlässige Information die Grundlage jeder Entscheidung. Obwohl in Österreich immerhin 6 Prozent der Internet-UserInnen zumindest gelegentlich E-Mails an PolitikerInnen, Parteien oder Medien versenden, um ihre Anliegen zu übermitteln und sich in Form der Beteiligung an politischen Chat-Foren und Newsgroups im Internet auch in Österreich die Konturen eines “cyber activism” abzuzeichnen beginnen, “der die politische Beteiligungskultur in den kommenden Jahren tiefreichend verändern könnte” (www.zap.or.at/20102505.html), zieht Konrad Becker (2002, 7) als Gründer und Leiter der Netzkultur-Einrichtung Public Netbase den Schluss, dass es um die Voraussetzungen einer zivilgesellschaftlichen Nutzung von Neuen Medien noch sehr schlecht bestellt ist: “Weite Teile der Gesellschaft und zahlreiche Entscheidungsträger sind immer noch nicht hinreichend mit den Implikationen der Informations- und Kommunikationstechnologien vertraut, um sich gestaltend an der Entwicklung einer breiten und demokratischen Debatte beteiligen zu können”.
Zu einer ähnlichen Bestandsaufnahme kommt Ursula Maier-Rabler (2000, 52): “Die ‚Digital Divide’ zeichnet nicht nur die Linien zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich, zwischen Männern und Frauen auf einer globalen Skala nach, sie zieht sich auch durch reiche Staaten, durch Unternehmen und Familien und zwischen Stadt und Land.” Daher richtet sich ihre Kritik in erster Linie an die mangelnde Verantwortung der österreichischen Politik: Diese habe “von Anfang an die Bedeutung der Telekommunikationsinfrastruktur als Harmonisierungsfaktor für gesellschaftliche Ungleichheiten verkannt und die Geschwindigkeit, die Richtung und das Design des Netzwerkausbaus der Telekommunikationsindustrie überlassen”. Die Konsequenzen werden zunehmend sichtbar: “Eine Technologie, die an und für sich raum- und distanzegalisierende Tendenzen besitzt”, hat “zum Zeitpunkt ihrer Einführung die ‚Digital Divide’ eher verstärkt denn verringert” (ebd.) – ein Faktum, das auch bei der Durchführung von wahlkabine.at zu berücksichtigen war. Die wenigen politischen Ansätze (hier vor allem Go on! – Internet-Offensive der Regierung Klima im Jahr 1999 bzw. e-Austria Offensive der Regierung Schüssel im Jahr 2000) haben sich schlicht als viel zu kurz greifende Populärmaßnahmen erwiesen und können nicht darüber hinweg täuschen, dass viele Menschen mit der online-gestützten Wahlhilfe nicht zu erreichen sind, weil ihnen die erforderlichen Zugangsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen. So beklagte etwa ein Lehrer einer polytechnischen Schule in einer E-Mail an die Redaktion, dass seine SchülerInnen die Online-Wahlhilfe wegen der mangelhaften technischen Ausstattung seiner Schule mit Modems nicht nützen könnten, und bat um Übersendung einer Offline-Version von wahlkabine.at.
8.3 Orientierungshilfe in der Informationsflut
Es ist – nicht zuletzt aus Gründen der kurzen Wahlkampfdauer – wenig verwunderlich, dass sich die österreichische Online-Publizistik in ihrer Berichterstattung zur Wahl 2002 geradezu überschlagen hat, in Echtzeit die aktuellsten Gesichter der Prominenz als Wahlkampflokomotiven der Parteien samt Homestories vorzustellen. Die Internet-UserInnen konnten sich der Fülle der Informationsangebote zwar kaum erwehren, Hinweise auf Standpunkte und politische Argumentationslinien der Shootingstars waren darin aber kaum auszumachen. Somit wurde gerade in einer solchen Medienlandschaft, die vor allem durch Oberflächlichkeit und Sensationslust gekennzeichnet ist, einer Online-Wahlhilfe, die das inhaltliche Vakuum aufzufüllen sucht, das Terrain geebnet. Wie Heidrun Abromeit (2002, 150f.) feststellt, sieht das Konzept empirischer Demokratietheorie nur höchst eingeschränkte Möglichkeiten und Verfahren der BürgerInnenbeteiligung vor, “genau genommen nur ein einziges: das der Wahl der politischen Entscheidungsträger. Dieses eine Verfahren ist indessen so eminent wichtig, dass seine Abwesenheit oder sein Nicht-Funktionieren gleichbedeutend mit Nicht-Demokratie sind” (ebd., 151). Um dieses Funktionieren zu gewährleisten, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein, unter denen Abromeit die Bedingung der ausreichenden Information der WählerInnen als problematischsten Punkt sieht (ebd.). Durch das Internet können Informationen prinzipiell unkompliziert und rasch zur Verfügung gestellt und verteilt und zusätzlich “das politische Faktenwissen und soziale Kompetenzen” gefördert werden (Filzmaier 2000, 231). Zugleich führen aber “vergrößerte Informationsangebote nicht zu vermehrtem (politischen) Wissen und Verstehen”, sind “seriöse Qualitätsprüfungen” nicht möglich (ebd., 233f.) und bestimmen marktwirtschaftliche Interessen den Ausbau der Politikvermittlung via Internet wesentlich mit (Filzmaier 1999, 213).
wahlkabine.at versteht sich demgegenüber als Angebot strukturierter und leicht handhabbarer Information und als konstruktiver Beitrag und Orientierungshilfe zur Auseinandersetzung mit Politikinhalten sowie zur Diskussion der Bedeutung von Wahlen als Instrument politischer Beteiligung in einer demokratischen Gesellschaft. Auch aus diesem Grund wurde das Projekt in zwei, für die Landtagswahlen in Tirol und Oberösterreich am 28. September 2003 adaptierten, Versionen fortgesetzt.
Da eine Unterscheidung zwischen den inhaltlichen Ausrichtungen der wahlwerbenden Parteien für viele WählerInnen immer schwerer möglich ist, rückt wahlkabine.at vor allem themenbezogene Positionen in den Vordergrund, wie sie aufgrund der zunehmenden Personalisierung von Politik gewöhnlich unter den Tisch fallen. Noch zwei Tage nach der Wahl schrieb eine Userin “im Namen ihres gesamten Bekanntenkreises” an die Redaktionsadresse: “Wir ‚Normal’-Wähler sind viel zu wenig über die Standpunkte der Parteien informiert. Nun meine ich, dass es noch viel mehr solche Themen gibt und es würde mich doch sehr interessieren. Die Parteiprogramme sind ja eher global und für einen Laien etwas zu unübersichtlich gestaltet.” Daher auch ihre Frage: “Gibt es eine Site im Internet, die ebenso übersichtlich, wie in Ihrer Wahlkabine, eine Gegenüberstellung der verschiedenen Standpunkte aufzeigt und noch mehr Themen anspricht?”
Die Intentionen von wahlkabine.at wurden von manchen UserInnen aber auch in eine gänzlich andere Richtung interpretiert: Einige E-Mails enthielten den Vorwurf der Entmündigung der WählerInnen, zum Teil in recht drastischen Formulierungen. So schrieb ein User: “ich denke nicht, dass mir irgendjemand erklären muss, welcher partei ich am nächsten stehe. So ein entmündigungsschwachsinn!” Ein anderer stellte fest, es gebe “ja ohnehin bereits genug strukturelle und subjektive filter durch die jene information ‚aufbereitet’ wird, die mir als grundlage meiner politischen entscheidungen und präferenzen dient. dass ihr jetzt eine zusätzliche ebene einführt und damit die ‚mündigkeit’ der wählerInnen unterstützen wollt, ist ja wohl ein paradoxon ersten ranges.” Und ein dritter Kritiker tat seinen Unmut kund, indem er in sehr unfreundlichen Worten eine Parallele zur Produktwerbung zog: “Trotz jahrzehntelanger Demokratie in Österreich wird der Stimmbürger als so unmündig angesehen, daß man glaubt, ihm eine Wahlentscheidungshilfe anbieten zu müssen. Und die Organisatoren dieser ‚Wahlentscheidungshilfe’ zeigen alleine schon durch den Werbetext ihren geistigen Tiefstand – es heißt: ‚Eine Online-Wahlhilfe sagt Ihnen, welcher Partei Sie am nähesten stehen’ analog Werbetextformulierungen wie: ‚Welche Creme passt zu Ihrem Hauttyp?’ oder ‚Das Ihnen nahestehende Urlaubsziel’ anstatt zu fragen: ‚Welche Partei bietet für die anstehenden Probleme gesamthaft die optimalste Lösungsmöglichkeit an? Armes Österreich!” Auch der Vorwurf der parteipolitischen Manipulation wurde erhoben, eine E-Mail unterstellte dem Redaktionsteam die Absicht, “jüngere Menschen ganz gezielt einer politischen Richtung” zuzuführen. Eine Userin stellte die Frage: “Wer steht eigentlich hinter dieser Befragung? Ist es etwa die SPOE?”
8.4 Voting Indicator Tool für Österreich
Im Herbst 2002 hatten so genannte “Voting Indicator Tools” auch in Österreich immer mehr Popularität erlangt. Vor allem der anlässlich der deutschen Bundestagswahlen 2002 in der Harald Schmidt-Show mehrmals vorgeführte Wahl-O-Mat fand auch in Österreich großes Gefallen. Daraus resultierte der zusätzliche Ehrgeiz, ein Projekt in Angriff zu nehmen, mit dessen Hilfe auch hierzulande auf spielerische Weise die politischen Inhalte der Parteien ausfindig gemacht und persönliche Affinitäten der WählerInnen von diesen selbst ausgelotet werden können.
Die Herausforderung für ein österreichisches “Voting Indicator Tool” bestand vor allem darin, geeignete Partnerorganisationen für eine möglichst breitenwirksame, aber auch integre Umsetzung zu finden, um in weiterer Folge eine geeignete politikwissenschaftliche Herangehensweise mit dem erforderlichen Know-how in Technik und Software-Programmierung zu verbinden. Die Realisierung von wahlkabine.at durch Public Netbase erfolgte schließlich in Kooperation mit der Gesellschaft für politische Aufklärung (Anton Pelinka) – einer NGO, die sich die Förderung der demokratischen Qualität der österreichischen Gesellschaft zum Ziel gesetzt hat –, der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft (Birgit Sauer) und dem IFF-Abteilung Politische Bildung (Peter Filzmaier). Für Public Netbase stellte Konrad Becker bereits nach wenigen Tagen in einer ersten Bilanz fest: “Die Zusammenarbeit von unabhängigen Institutionen der Zivilgesellschaft hat sich in ihrer gesellschaftlichen Funktion als wirkungsvoll erwiesen und wird als beispielgebendes Kooperationsmodell einer demokratischen Informationsgesellschaft weiter fortgeführt.” (Presseaussendung vom 23.10.2002).
Ebenso wichtig war es, für die Online-Wahlhilfe eine Darstellungsform zu finden, die eine möglichst einfache Handhabung ermöglicht. Das beginnt schon bei der Namensfindung. Ein Projekttitel – darin waren sich alle Beteiligten einig –, der einen Wiedererkennungseffekt nicht von vorneherein mit berücksichtigt, wird mit dem schnellen Tempo des Internet nicht Schritt halten können. Die Entscheidung fiel binnen kürzester Zeit auf “Wahlkabine”, eine Bezeichnung, die – so sollte sich herausstellen – schließlich alle Erwartungen erfüllte.
Der Wahlkampf für die Nationalratswahlen 2002 stand ganz im Zeichen der Auseinandersetzung von “Schwarz-Blau” gegen “Rot-Grün”. Die Medien trugen das ihre dazu bei, dass die Dynamik dieses bipolaren Kräftemessens keinen Abbruch erfuhr. Das aus PolitikerwissenschafterInnen und MitarbeiterInnen von Public Netbase gebildete Redaktionsteam musste allerdings sehr früh zur Kenntnis nehmen, dass darüber hinaus eine genauere Differenzierung der Parteien hinsichtlich politischer Sachfragen gar nicht so leicht zu finden war. Zudem mussten die Fragen, die schließlich wahlkabine.at zugrunde gelegt werden sollten, aus Gründen der methodischen Seriosität schon in der Formulierung jedweden Suggestivcharakter ausschließen. Da konnte die eine oder andere Debatte des Redaktionsteams schon einmal abendfüllend sein. Durfte etwa in einer Frage der Begriff “Nulldefizit” angeführt werden, der zwar im alltäglichen politischen Diskurs geradezu allgegenwärtig zu sein schien, aber ebenso eindeutig einem Finanzminister zuzuordnen war, der zu diesem Zeitpunkt noch zu den SpitzenrepräsentantInnen der FPÖ zählte? Die Mitglieder des Redaktionsteams entschieden sich dagegen – ganz im Gegensatz zur Frage, ob Österreich neue “Abfangjäger” kaufen solle; hier lautete die Entscheidung, dass der Begriff “Abfangjäger” immerhin bereits Gegenstand zweier Volksbegehren gewesen war (1985: “Für Durchführung einer Volksabstimmung gegen Abfangjäger (Draken)”; 2002: “Gegen Abfangjäger”) und jedes Ausweichen auf andere Begriffe (etwa “Kriegsflugzeug” oder ähnliches) erst recht parteipolitisch konnotiert wäre.
Das Redaktionsteam erarbeitete in einer ersten Phase 34 Fragen, die in Folge den Parteizentralen von SPÖ, ÖVP, FPÖ und Grünen zur Beantwortung übermittelt wurden (die Kandidatur von anderen Parteien stand zum Stichtag 30. September 2002 noch nicht fest) und von diesen mit “Ja” oder “Nein” beantwortet sowie in ihrer Bedeutung gewichtet werden sollten. Die schwierige Aufgabe bestand in der Folge zum einen darin, sich durch die oft sehr ungenauen bzw. ausweichenden, zum Teil aber auch sehr ausführlichen Antworten zu arbeiten. Beispielsweise umfassten die Antworten der FPÖ insgesamt 12 Seiten, vielfach wurden nur Textsequenzen aus den Programmpapieren der Partei herangezogen; die ÖVP antwortete ausweichend auf die Frage nach dem NATO-Beitritt: “Nicht aktuell, weil Österreich keine Einladung zur Mitgliedschaft erhalten wird”. Zum anderen war in einzelnen Fällen eine seriöse Nachjustierung der durch die jeweiligen Parteien vorgenommenen Gewichtung der Themen notwendig.
Eine solche Gewichtung ist nicht nur aus politikwissenschaftlich-methodischer Perspektive für eine Unterscheidung der Positionen einzelner Parteien unumgänglich. Es ist vor allem auch der Algorithmus der Programmierung im Hintergrund, der diesen Faktor zur Berechnung der Ergebnisse unbedingt benötigt. In der Praxis zeigte sich diese Notwendigkeit alleine an dem Umstand, dass SPÖ und Grüne sich bloß in einer einzigen Frage voneinander unterschieden: “Sind Sie für die Entkriminalisierung des Konsums von weichen Drogen wie Haschisch und Marihuana?” Dass im Sinne einer notwendigen Differenzierung einzelne von den Parteien vorgenommene Wertungen manchmal – unter Bezugnahme auf öffentlich zugängliche Dokumente wie Parteiprogramme oder Websites der Parteien und unter Einbeziehung von politikwissenschaftlichem Fachwissen und Kontextinformationen – durch das Redaktionsteam zusätzlich gewichtet werden mussten, hat naturgemäß auch Konfliktstoff geborgen. Denn es war – wie schon bei anderen vergleichbaren Online-Wahlhilfen – auch bei wahlkabine.at nicht auszuschließen, dass die Ergebnisse des Online-Fragenkatalogs für einzelne UserInnen mitunter ein ganz anderes Bild zeigten, als es das individuelle Übereinstimmungsempfinden vorsieht. So berichteten die Salzburger Nachrichten am 15. 10. 2002: “Dem Vernehmen nach soll ein österreichischer Parteichef heuer einigermaßen konsterniert gewesen sein, als er nach testweiser Absolvierung des deutschen Wahlo-maten-Programms als typischer PDS-Wähler entlarvt wurde.” Da kam es dann auch bei wahlkabine.at schon einmal vor, dass ein langjähriges ÖVP-Gemeinderatsmitglied als potentiell der Sozialdemokratie nahe stehend ausgewiesen wurde oder ein SPÖ-Anhänger einen leichten Überhang an Affinität mit den Grünen ortete. Auch der Lerneffekt kam dabei nicht zu kurz. Mehrere sozialdemokratische FunktionärInnen haben erst durch die Online-Wahlhilfe davon erfahren, dass ihre Partei in der Drogenfrage den grundsätzlich gleichen Standpunkt wie ÖVP und FPÖ vertritt.
Für die Gewichtung durch die Parteien wurde vom Redaktionsteam im Zuge langer Beratungen eine Skala von 1 bis 3 festgelegt. Die RespondentInnen hingegen sollten ihre individuelle Beantwortung der Fragen (Ja; Nein, Keine Angabe) mit einer Gewichtung der persönlichen Bedeutung dieser Fragen auf einer erweiterten Skala vornehmen (1: weniger wichtig; 9: sehr wichtig).
Auf der Basis der, von den Parteien eingelangten, Antworten (sie bedurften manchmal mehrerer Urgenzen) legte sich die Redaktion schließlich auf 26 Fragen fest, die fortan den Kern des Projekts bilden sollten. 8 der ursprünglich 34 Fragen mussten gestrichen werden, weil in den Antworten und Gewichtungen seitens der Parteien Unterscheidungen nicht ausreichend zu erkennen waren. Dies bedeutete auch, dass wichtige Sachthemen (z.B.: Umwelt, Gentechnik) im Fragenkatalog schließlich doch nicht repräsentiert waren.
8.5 Interaktivität
Dem Projekt wahlkabine.at lag von Anfang an die Absicht zugrunde, mit der Breitenwirksamkeit auch eine aufklärerische Rolle im Sinne politischer Bildung zu übernehmen. Es wurden mit den 26 Fragestellungen nicht nur politische Inhalte sichtbar gemacht, die von vielen Menschen in der zunehmenden Informationsflut kaum wahrgenommen werden konnten; durch die Auflistung der Themen wurde auch ein Nachdenkprozess darüber in Gang gesetzt, welche Positionen die jeweiligen Parteien eigentlich bezogen hatten. Mehrere Rückmeldungen an das Redaktionsteam lassen darauf schließen, dass auch eine größere Sensibilität für inhaltliche Aussagen von PolitikerInnen oder eben für das Ausbleiben des Einnehmens von Standpunkten in wichtigen politischen Sachfragen bei einigen UserInnen erreicht werden konnte.
Besonders hervorzuheben ist die auf der Startseite von wahlkabine.at angebotene Möglichkeit, mit den BetreiberInnen des Projekts interaktiv in Kontakt zu treten. Mehr als 800 Mitteilungen wurden nach Ablauf des sechseinhalbwöchigen Betriebs gezählt, deren Spektrum sehr umfangreich gewesen ist. Viele UserInnen nutzten die elektronische Kontaktadresse auch, um sich für diese Form der Unterstützung bei der Entscheidungsfindung vor den Wahlen zu bedanken; dazu zählten auch zahlreiche ÖsterreicherInnen, die im Ausland leben.
Nicht selten wurde auch die Frustration darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich Politik in immer stärkerem Ausmaß von den Menschen entferne und eine Orientierung im politischen System geradezu aussichtslos sei. Sich orientieren zu können, einen Durchblick zu gewinnen, scheint aber ein wachsendes Bedürfnis zu sein. Darauf weisen auch Reaktionen von Familien hin, die den Einsatz von wahlkabine.at zum Familienerlebnis erklärten, das wichtige Anregungen geboten hätte, um mit den Kindern gesellschaftspolitische Debatten zu führen und politische Sichtweisen zu erläutern.
Als sehr aufschlussreich erwiesen sich letztlich auch die vielen E-Mails, die um nähere Erklärung einzelner Fragen ersuchten. Obwohl sich das Redaktionsteam sehr um größtmögliche Verständlichkeit bemüht hatte, konnten einzelne Begriffe trotz häufiger Nennung in TV, Radio und Zeitungen von einigen UserInnen nicht dechiffriert werden. Als Beispiel bietet sich dazu die Frage nach der “Grundsicherung” an: Es kam nicht nur einmal vor, dass hier ein Zusammenhang mit dem “Grenzschutz” oder der “militärischen Landesverteidigung” vermutet wurde. An anderer Stelle blieb die Frage nach dem Umfang des österreichischen Engagements in der “Entwicklungszusammenarbeit” für manche überhaupt ein großes Rätsel.
Einige Reaktionen waren ziemlich emotional und forsch geraten. So machte eine Frau aus ihrem Ärger keinen Hehl und forderte die BetreiberInnen dazu auf, die Frage, ob “die private Haltung von aggressiv abgerichteten Hunden (Kampfhunden) verboten werden soll”, umgehend zu verändern. “Aggressiv gemachte Hunde und Kampfhunde”, so belehrte sie ganz lapidar, “sind zwei Paar Schuhe!” Mit ihrer Sorge um die exakte Einordnung von Hunden war sie keineswegs allein. Geradezu als politisches Grundsatzbekenntnis liest sich folgender Beitrag: “Als Besitzerin eines sogenannten Kampfhundes mag ich etwas empfindlich reagieren, aber es macht auch keinen Spaß, dauernd als Kindermörder beschimpft zu werden. Ich mag nunmal in keinem Land leben, das Rassismus in irgendeiner Form toleriert, egal gegen welche Lebensform der sich richtet.” Ein Dritter fand in Zusammenhang mit den Kampfhunden sogar ermahnende Worte: “Sie sollten sich das nächste Mal etwas genauer ausdrücken!” Interessant auch der Nachsatz: “Ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren, dass Sie diese Mail belächeln und in den Papierkorb werfen.” Es ist eine der interessantesten Begleiterscheinungen von wahlkabine.at, dass das gesammelte Feedback auch über die Überzeugung mancher Menschen Auskunft gibt, die eigene politische Artikulation würde ohnehin kein Gehör finden. Diese Haltung korrespondiert mit Forschungsergebnissen des Zentrums für angewandte Politikforschung (Wien), denen zur Folge nur jede/r vierte ÖsterreicherIn glaubt, auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen zu können: “Unverändert laboriert die politische Kultur Österreichs an einer als mangelhaft empfundenen Responsivität der institutionellen Eliten” (www.zap.or.at/20102507.html).
wahlkabine.at ist es aber nicht nur durch die Thematisierung der Kampfhundefrage gelungen, bei so manchen BenutzerInnen die Gemüter zu erregen. So ließ eine Person, die für sich das Pseudonym der Kommunistin und Schriftstellerin Alexandra Kollontai wählte, ihrem Ärger über die Beschränkung auf die vier, im Parlament vertretenen, Parteien freien Lauf: “Ich hätte mir eigentlich mehr erwartet als ein anklick-spiel auf dem niveau der psychotests in der krone-wochenendausgabe. im übrigen: ich bin kommunistin und werde kpö wählen. es erstaunt mich schon, dass sogar für euch (wer immer dieses ‚euch‘ eigentlich ist) neben den vier parlamentsparteien keine anderen existieren, ja dass politik für euch auf das tun im parlament reduziert bzw. die eigene politische haltung lediglich etwas mit zustimmung/ablehnung zu vorgelegten fragen und nicht auch mit dem eigenen alltagshandeln zu tun hat, nach dem nicht mal ansatzweise gefragt wird. auch wenn das spielchen bloss ein spielchen ist: es ist wenig originell, langweilig und bieder.” Auch wenn der Abschied mehr als geharnischt ausfällt (“wißt ihr dumpfbacken überhaupt wer kollontai war?”), muss man der Userin eine Verdrossenheit mit der gegenwärtigen Form der repräsentativen Demokratie und des Parlamentarismus in Österreich attestieren, die ein Nachdenken über alternative Austragungsformen von politischen Entscheidungsfindungsprozessen tatsächlich dringend notwendig erscheinen lässt.
Ebenfalls auf die Auswahl der Parteien bezog sich eine Kritik, die dann auch gleich das Redaktionsteam, vor allem aber den Initiator Public Netbase, in heftigem Ton der Unkenntnis zieh: “Recht weit scheint es mit eurem politischen Wissen nicht zu sein, da zur Wahl 5 (in Zahlen: fünf) Parteien österreichweit antreten. Da ich euch als Kulturschaffende und dem kritischen Potential Österreichs Zuzuordnende einschätze, verrate ich euch die Auflösung nicht. Ihr werdet Sie hoffentlich selbst rausfinden. Und dann vielleicht auch auf der Homepage zu einer größeren Meinungsvielfalt und Objektivität finden.” Mit dem Liberalen Forum und der KPÖ kandidierten natürlich bundesweit insgesamt sechs Parteien für die Nationalratswahl 2002. Die Schelte ist daher unter die besonderen Skurrilitäten dieses Projekts einzureihen.
Die meisten E-Mails waren aber wohlwollend: “Wir begrüßen diese Fragestellungen zur Klärung des persönlichen Standpunktes im Sinne von Information sehr”, schrieb eine Mutter im Namen ihrer Familie. Zugleich fügte sie auch eine Anregung hinzu: “Um sich als mündiger zur Wahl aufgerufener Bürger tatsächlich ein Bild über Wichtigkeit und Wesentlichkeit der Zusammenstellung der Fragen machen zu können, würden wir in diesem Sinne der Offenlegung und Transparenz begrüßen, wenn sich zu den manifestierten Fragen nicht nur die politischen Parteien und der Wähler, sondern auch das Redaktionsteam äußert. (…) Diese Deklarierung des Redaktionsteams würde unserer Meinung nach die demokratische Meinungsäußerung fördern und die persönliche Deklarierung jedes einzelnen wesentlich erleichtern.” Dieser Wunsch kann durchaus auch als Kritik daran verstanden werden, dass vor allem die Medien zu wenig an Meinung, die den Menschen Orientierungshilfen bieten könnte, veröffentlichen. Die Redaktion ist dessen ungeachtet nicht von ihrem Entschluss abgerückt, die eigenen Standpunkte für sich zu behalten.
“wahlkabine.at = perfekte demokratie?” fragt ein anderer User bereits in der Subjectline seiner elektronischen Stellungnahme. “Wäre so ein system nicht perfekt, um in der zukunft über gesetze wirklich demokratisch abzustimmen? So à la ‚jeder österreicher und jede österreicherin kann zu dem thema x seine/ihre meinung in multiple-choice-form abgeben, je nach ergebnis wird dann das gesetz beschlossen, geändert, etc …” Ein zweites Beispiel: “Entsprechende Fragen könnten den Wählern vorgelegt werden, und je nach der Summe der Einzelentscheidungen (Summe der einer Partei zugeordneten Entscheidungen) sollten dann die Abgeordneten-Sitze des Parlaments oder anderer Gremien auf die politischen Parteien aufgeteilt werden. In einer Zeit, wo Quizshows in kürzester Zeit mit TEDs die Entscheidungen eines Millionenpublikums zur Verfügung haben, sollte das peinliche Dilemma, sich nur für das geringere oder geringste Übel entscheiden zu können, mittels moderner Technik endlich der Vergangenheit angehören. Die Politikverdrossenheit ließe sich so sicher verringern.”
Die Begeisterung für derartige Formen des e-Votings folgt einem internationalen Trend. Jedoch: “Die neue Technologie ist schnell und demokratisches Abwägen im besten Sinne ist langsam und bedächtig”, wie Benjamin Barber in Newsweek (27.2.1995, 27) schreibt (zit. n. Vulner 2000, 134). Für eine kritische Betrachtung ist es jedenfalls signifikant, dass ein solch unreflektiertes Vertrauen gerade in Österreich noch viel mehr Aufklärungsarbeit benötigt: “Demokratie benötigt Zeit (…) Wählen ist nicht ein punktueller Akt, sondern Teil eines permanenten Prozesses von kompetenter gesellschaftlicher Teilhabe” (Vulner 2000, 134f.)
Der Wahlkampf war kurz, dafür wurde er sehr hitzig geführt. Durch die mediale Reduktion des Wettbewerbs der wahlwerbenden Parteien zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei politischen “Lagern” (Warnung vor “Rot-Grün” und “Schluss mit Schwarz-Blau”) wurde auch eine Auseinandersetzung um Ideologien und ihre Berechtigung wieder stärker ins Blickfeld gerückt. Dies spiegelt sich auch in den Reaktionen zu wahlkabine.at wider: “Leider mußte ich feststellen”, schrieb ein Respondent, der in seiner Unterschrift einen akademischen Titel anführte, “daß Sie fast kein einziges Sachthema ansprechen. Der Großteil der Fragen hat einen rein ideologischen Hintergrund. Mit reiner Ideologie wird man die Probleme dieses Landes nicht lösen. Fast peinlich finde ich, wenn keine einzige Frage das Thema Umwelt, Transit, … betrifft; Kunstförderung, die Haltung von Kampfhunden, gesetzliche Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften, … sollen das die Themen sein, die die Österreicherinnen und Österreicher wirklich bewegen?” Dieser Irritation ist zu entnehmen, dass offenkundig von diesem User die strukturelle Diskriminierung von Menschen noch immer nicht als ein Problem empfunden wird, dessen Beseitigung eigentlich Aufgabe der Politik sein sollte. wahlkabine.at ist es auf alle Fälle gelungen, solcherart Wahrnehmungsdefizite offen zu legen. Für die politische Bildung eröffnet dies einen reichhaltigen Aufgaben-Fundus.
8.6 Datenschutz und Open Source
Als Indikator für die demokratiepolitische Qualität einer Gesellschaft wird der Datenschutz immer wichtiger. Auch wenn die Sensibilität in dieser Frage noch immer mehr als zu wünschen übrig lässt, scheint sich doch bei manchen allmählich ein Umdenken abzuzeichnen. Die Politik hat weltweit nach dem 11. 9. 2001 massive Einschränkungen der Privatsphäre vorgenommen – jetzt formiert sich in zunehmendem Maße eine kritische Bewegung, die nicht bereit ist, die wichtigsten Grundrechte im digitalen Informationszeitalter der angeblichen Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu opfern.
So überrascht es nicht, dass die Frage nach dem Umgang mit den gesammelten Daten auch im Zusammenhang mit wahlkabine.at zur Sprache gekommen ist – jedoch auf recht unterschiedliche Weise. Obwohl bereits auf der Startseite von wahlkabine.at einer gut sichtbaren Erklärung zu entnehmen war, dass keinerlei Daten weitergegeben werden, so schien dennoch bei manchen die Skepsis zu überwiegen: “Ich habe mir die Frage gestellt”, schrieb ein Mitarbeiter eines Universitätsinstituts an die angegebene Kontaktadresse, “ob www.wahlkabine.at ein versteckter anonymer Mikrocensus ist (email-Verbindung ist ja bekannt) und fühle mich durch die Bemerkung: ‚Ihre Übertragungsdaten werden nicht an Dritte weitergegeben‘ in dieser Befürchtung bestärkt. Bitte um Aufklärung, da solche vagen Situationen meine leisen Befürchtungen bezüglich Mißbrauch des internet doch etwas nähren und meine Bereitschaft, etwa ihr Angebot zu nutzen, nicht verstärken.”
Diese Sorge musste natürlich in einer Antwortmail beseitigt werden – wie auch die kurze Hoffnung vereinzelter Wirtschaftsunternehmen und Forschungsprojekte, die Daten seien auf Basis eines lukrativen Geschäftes für die BetreiberInnen sehr wohl von diesen erhältlich. Alle Ergebnisse sowie auch die IP-Adressen (diese dienen vor allem der Identifikation von Computern und Servern) aller BenutzerInnen wurden nicht gespeichert. Dass jede Form von Missbrauch verhindert werden muss, ist für eine Netzkultur-Institution wie Public Netbase, die ausnahmslos für die Wahrung des Datenschutzes eintritt, wie auch für alle anderen, an wahlkabine.at beteiligten, zivilgesellschaftlichen und universitären Organisationen jedenfalls eine Selbstverständlichkeit.
Generelle Offenheit herrscht hingegen bei jenen Daten, die der Programmierung und dem Berechnungsverfahren der Online-Wahlhilfe zugrunde liegen (Informationen über die Zielsetzung des Projekts, Erläuterungen zur Umsetzung und Methodik, Kurzübersicht der Parteienstandpunkte, Gewichtungen). Bei der Verwirklichung des Projekts sollte von Anfang an dem Open Source-Prinzip Rechnung getragen werden. Dieses sieht vor, dass der Source Code, den ProgrammiererInnen lesen und schreiben können, frei zugänglich sein muss. Durch die Möglichkeit, diesen Code einzusehen, eventuell Veränderungen vorzunehmen und das Projekt weiter zu entwickeln, entsteht eine Form der Kooperation, die sich in erster Linie gegen die Exklusionsmechanismen von proprietären Programmen richtet (hier werden Codes als so genanntes “geistiges Eigentum” strikt unter Verschluss gehalten). Im Falle von wahlkabine.at ist es daher wenig überraschend, dass ein begeisterter User eine inhaltlich idente Adaption für einen weit verbreiteten Handheld (ein elektronisches Datenmanagement-Tool im Hosentaschenformat) entwickelt und für große Verbreitung über seine Homepage gesorgt hat.
8.7 Funktion und Stellenwert
Das Verständnis neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und ihres Einsatzes in politischen Zusammenhängen darf sich nicht auf eine eingeengte Betrachtung beschränken. Saskia Sassen (2002, 9) empfiehlt daher, die Perspektive nicht nur auf die Auswirkungen der neuen Medien auf bestehende Verhältnisse und Institutionen einzugrenzen: Neue Informations- und Kommunikationstechnologien “müssen auch als konstitutive Faktoren neuer Verhältnisse und institutioneller Strukturen begriffen werden, als neu entstehendes Ordnungssystem. Wer an Fragen der demokratischen Partizipation und Verantwortung interessiert ist, muss über technische Leistungsfähigkeit und Auswirkungen auf bestehende Verhältnisse hinausgehen und sich mit den Eigenschaften dieses neu entstehenden Ordnungssystems befassen”.
Bei allem Erfolg von wahlkabine.at im Vorfeld der Nationalratswahlen 2002 müssen Funktion und Stellenwert vor diesem Hintergrund richtig eingeordnet werden. Die wichtigste Überlegung war, mit dieser Online-Wahlhilfe ein Instrument zu schaffen, das Interesse für politische Inhalte weckt, Positionen in der Politik im Sinne einer Orientierungshilfe sichtbar macht sowie Nachdenk- und Diskussionsprozesse anregt. wahlkabine.at ist sicher nicht geeignet, politische Bekenntnisse oder die Zugehörigkeit zu einer Partei zu überprüfen. Bei einer Wahlentscheidung spielen immer unterschiedliche Motive mit, sie wird nicht nur von der Orientierung an Sachthemen bestimmt. wahlkabine.at dient auch keinesfalls dem Zweck, irgendeine Partei im Vorfeld der Wahlen zu unterstützen. Und wahlkabine.at kann und will auch rein gar nichts zu einer zusätzlichen Dramatisierung von Wahlkämpfen im Sinne eines Kopf-an-Kopf-Rennens mit Fotofinish beitragen.
wahlkabine.at versteht sich als ein Instrument politischer Bildung im weitesten Sinn. Nicht nur Jugendliche, die vielleicht zum ersten Mal vor einer Wahlentscheidung stehen, benötigen gegebenenfalls Aufklärung, die zum selbstbewussten Nachdenken anregt. Am klarsten bringt dies wohl ein Hinweis auf der Info-Site der Bundesjugendvertretung auf den Punkt (www.vote4future.at; siehe unter “Links” die Rubrik “Originelles”): “Ganz witzig, aber nimm es nicht all zu ernst! Politische Entscheidungen sollten von Menschen getroffen werden, nicht von Mikrochips!”