Im Spectrum der Tageszeitung Die Presse erschien am 3. Juli 2010 eine ausführliche Besprechung des Sammelbands Phantom Kulturstadt.
Museum auf Gutsherrenart
Prätentiös: ein Sammelband zu Wien als "Kulturstadt"
Von Thomas Rothschild
Der Untertitel verweist darauf, dass der Band "Phantom Kulturstadt" anschließt an die ein Jahr zuvor erschienenen Texte über "Kampfzonen in Kunst und Medien" (siehe "Spectrum" vom 23. August 2008). 29 Beiträge enthält der zweite Sammelband, zu den Themenfeldern "Kulturstadt-Ökonomie", "Raum-Ordnung", "Kunst-Stadt", "Stadt-Kultur" und "Urbane Konflikte".
Was aber als Textsammlung zum Thema "Kulturstadt" daherkommt, meint, auch wenn andere Städte als Gegenbeispiele herhalten müssen und sofern es sich nicht um allgemeine oder theoretische Erwägungen handelt, in Wirklichkeit "Wien". Gleich zu Beginn stellen die Herausgeber der österreichischen Hauptstadt ein schlechtes Zeugnis aus: "Die Stadt selbst wirkt wie ein Museum, auf Gutsherrenart verwaltet zwischen imperialen Fassaden und Fin-de-Siècle-Kitsch." Das ist ein Klischee und hat, wie alle Klischees, einen wahren Kern. Ginge es freilich nur darum, diesen Befund zu bestätigen, bräuchte man nicht fast 300 Seiten. So schreibt Christian Höller in einem Rückblick von heute auf die Jahre von 1988 bis 1992: "Dass 20 Jahre später nahezu alle Kunstinstitutionen, egal worin ihre jeweilige Kernkompetenz auch liegen mag, in eine regelrechte Fetischisierung alles ‘Gegenwärtigen’ und ‘Zeitgenössischen’ einstimmen sollten, war damals nicht absehbar." Klingt nicht nach imperialen Fassaden.
Protzige Fassaden der Banken
Vielleicht muss man in einer Stadt gelebt haben, in der die Bomben des Zweiten Weltkriegs und dann die Aufbauwut des Wirtschaftswunders mit ihren immer gleichen Fußgängerzonen und Kaufhäusern jede Spur der Geschichte verwischt haben, um über imperiale Fassaden und Fin de Siècle weniger streng zu urteilen. Und sind es nicht die den imperialen Gestus imitierenden, protzig großbürgerlichen Fassaden der Banken und Bahnhöfe, die die viel gepriesene Urbanität von, sagen wir, Paris entscheidend mitbestimmen? Sind die antiken Ruinen Roms weniger museal als die Ringstraßenbauten? Im Übrigen gibt es in Wien auch den Karl-Marx-Hof oder die Industriebauten in Simmering und Floridsdorf.
Einige Beiträge sind in einem prätentiösen Jargon formuliert, der kaum geeignet ist, Leser zu fesseln. Diese durchschauen wohl, dass eine pseudowissenschaftliche Terminologie bloß über die Trivialität, wenn nicht Tautologie mancher "Erkenntnisse" hinwegtäuschen soll. Ein Modewort wie "Hype" ist keine Garantie für die Zeitmäßigkeit der Gedanken. Der Automatismus, mit dem solche Versatzstücke hier einfließen, bestätigt vielmehr den Verdacht, dass auch die Ideen nur aus Vorgefertigtem bestehen.
Der klügste Beitrag stammt von einer Frau, die auch eines der klügsten Theaterfestivals in Europa organisiert. Gute Praktiker müssen nicht schlechte Denker sein und umgekehrt. Die Frau heißt Stefanie Carp, ist Deutsche und seit 2008 für das Schauspielprogramm der Festwochen verantwortlich. Es zeugt allerdings von diplomatischer Höflichkeit (bei Juden spricht man, anders als bei Deutschen, in solchen Fällen von "Selbsthass"), wenn sie meint, Österreich habe "seine jüdische Identität von den Deutschen vertreiben und ermorden" lassen. Die Österreicher haben dabei schon eifrig mitgewirkt. Man sollte sie nicht unterschätzen.