Die WM 2010 hat erneut die Diskussion entfacht, warum Afrikas Fußball trotz der vielen Stars nicht zum Höhenflug ansetzen kann. Seither leckt fast der ganze Kontinent die Wunden – eine einmalige Chance, mit den strukturellen Missständen endlich aufzuräumen. Ein Bericht aus Kamerun.
Der rote Kaiman kannte kein Erbarmen. Die Gäste aus Douala machten ihrem Wappentier alle Ehre, als sie die Heimelf von Queen Victoria de Limbe auf dem durch die Regenzeit zerzausten Vulkanaschenfeld regelrecht das Fürchten lehrten. Für die jungen Spielerinnen aus der Fischerstadt hatte der frühe 0:3-Rückstand in der Pause eine gehörige Standpauke zur Folge. Wobei der Trainer sich kaum Gehör verschaffen konnte. Eine beachtliche Menge aufgebrachter Fans war ebenfalls zur Bank gestürmt, um den am Boden kauernden Mädchen dutzendfach lautstarke Ratschläge zu erteilen.
Die wütenden Zwischentöne in der zweiten Spielklasse des Kameruner Frauenfußballs sind bezeichnend für die Situation des Landes nach dem WM-Desaster 2010 in Südafrika. Noch nie zuvor hatte die stolze Fußballnation mit null Punkten die Heimreise antreten müssen. Spätestens nach der dritten Gruppenpleite am 24. Juni gegen die Niederlande rätselten Medien und Gesellschaft unablässig, wie diese historisch einmalige Schande zu erklären sei. Dabei waren den Zurufen in den Bars und im Blätterwald kaum Grenzen gesetzt. “Ein Löwe stirbt nicht, er schläft”, trösteten sich die einen mit dem seit Generationen überlieferten Sprichwort. Andere wiederum wollten die Misere tiefer ergründen und kratzten bewusst an Tabus.
Fäulnis eines Systems
Der mittlerweile in Johannesburg lehrende Philosoph und Politologe Achille Mbembe hatte als weltweit gefragter WM-Kommentator gleich mehrfach die Gelegenheit, das Fiasko seines Herkunftslandes Kamerun kritisch auszuleuchten. “Die Ursachen sind in der engen Verbindung von Sport und Politik zu finden. Die Mächtigen haben sich eingekapselt und wie Invasoren im eigenen Land das gesamte Volk unterworfen. Es ist diese Form des ‘inneren Kolonialismus’, der nicht nur den Fußball, sondern mit ihm auch das soziale, wirtschaftliche und intellektuelle Leben betrifft.”
Für Mbembe ist der in Kamerun auf allen gesellschaftlichen Ebenen gepflegte Starkult nicht bloß ein Symptom der Widersprüchlichkeit von Krisen, sondern vielmehr ein Indikator für die Fäulnis eines ganzen Systems. “Samuel Eto’o ist ein großer Sportler, der in den weltbesten Vereinen von den besten Trainern des Planeten geformt wurde”, meint der Philosoph, “doch kaum kehrt er in das Gaunermilieu zurück, versinkt er in einer Kultur der Vulgarität, Prunksucht und Rückgratlosigkeit.”
In ein ähnliches Horn stößt Dagobert Dang. Der ehemalige Internationale appelliert unermüdlich dafür, die Perspektive mehr auf die strukturellen Unzulänglichkeiten zu richten. Entsprechend ausführlich berichtet er von der Mühsal des Vereinsfußballs, vom desolaten Zustand der Stadien und der Verweigerung der Verantwortlichen in der Politik und den Verbänden, sich für eine Verbesserung der Grundlagen einzusetzen. “Gegen Ratschläge sind die Entscheidungsträger resistent, hier beweisen sie eine dicke Haut.” Dang, der für seinen ausdauernden Dienst am Kameruner Fußball noch immer auf Anerkennung von offizieller Seite wartet, will seinen Optimismus dennoch nicht aufgeben.
Mangelware Fußballschuhe
Dabei wird es zunehmend schwierig, sich dem langen Atem der alten “Unbezähmbaren” anzuschließen. Am 16. August stand die Begegnung des Prison FC de Yaoundé gegen Tarzan d’Obala auf dem Spielplan der dritten Division. Die Gäste trafen erst in letzter Minute in ausreichender Anzahl im Stade Militaire ein, weil es den Spielern selbst überlassen ist, die beschwerliche Anreise in beengten Kleinbussen zu meistern. Kaum jemand hatte intakte Fußballschuhe mitgebracht – neben Funktionären mangelt es auch an den entsprechenden Mitteln für die Ausrüstung. Umso erstaunlicher das hart erkämpfte 0:0. Denn der gegnerische Prison FC verfügt mit Endeng Zogo über einen Vereinspräsidenten, der als FIFA-Schiedsrichter und Gefängniswärter in der Hauptstadt einflussreiche Netzwerke für seinen Klub nutzbar machen kann.
Es sind, so wird in Gesprächen immer wieder deutlich, vor allem die mächtigen Clans, die der dringend erforderlichen Erneuerung im Wege stehen. Sie agieren auch im Fußball nach dem Prinzip der ethnischen Zugehörigkeit. Hinter vorgehaltener Hand wird nicht selten daran erinnert, dass selbst Roger Milla beim Eintreffen im Trainingscamp zur Vorbereitung der später so erfolgreichen WM 1990 einem massiven Mobbing durch die Mehrheit der Bassa im Team der späteren Viertelfinalisten ausgesetzt war. Und auch der mittlerweile ausgeschiedene Kameruner Teamchef Paul Le Guen war bei den Vorbereitungen für Südafrika nicht frei in seinen Entscheidungen. An der Auswahl seines Kaders, so die öffentliche Meinung, hätten viele unsichtbare Hände aus Politik und Wirtschaft mitgewirkt.
Milla mag nicht mehr
Im Gegensatz zur mangelhaften Ausstattung an der Basis fehlt es der Fédération Camerounaise de Football nicht an Geld. Mit zum Teil unverhältnismäßig hohen Gehältern für den Teamchef und seinen Betreuerstab hat man sich in Kamerun wie im restlichen Afrika schon nahezu abgefunden. Als allerdings wenige Wochen nach der WM bekannt wurde, dass sogar der als integer geltende Verbandspräsident Mohamed Iya umgerechnet rund 70.000 Euro aus Regierungsgeldern in seine eigene Tasche stecken durfte, war der Skandal perfekt. Nicht zuletzt der Protest der FIFA, die staatliche Zuwendungen an ihre Mitgliedsverbände strikt untersagt, bewog Iya zum Einlenken und schließlich zur Rückzahlung. Für Roger Milla kam dieser Schritt zu spät. Er legte Ende August aus persönlichem Groll über den moralischen Verfall der FECAFOOT sein Amt als Ehrenpräsident nieder.
Ob die in Hinblick auf zukünftige Erfolge wichtige Erneuerung des afrikanischen Fußballs gelingen wird, ist völlig offen. Der nächste Prüfstein bietet sich 2012 mit dem Afrika-Cup in Gabun und Äquatorialguinea. In Kamerun blickt man schon weiter nach vorn. Die vom Telekom-Riesen MTN zu einer gigantischen Marketing-Kampagne ausgebaute Errichtung FIFA-konformer Stadien soll es bis spätestens 2017 möglich machen, sich nach Jahrzehnten im Abseits wieder offiziell um eine Austragung des CAN zu bewerben.
Vorerst spiegeln sich die Entwicklungen nur in Szenen des fußballerischen Alltags wider. Die Frauen des Caiman Club de Douala siegten in Limbe überlegen mit 8:2. Dennoch musste Petit-Pays, ein landesweit bekannter Sänger und Präsident des Traditionsclubs, die Fans schon wenige Tage später im Zuge der Generalversammlung einer kräftigen Schelte unterziehen. Unangenehmer Anlass war der wiederholte Ruf nach mehr tribalistischer Reinheit im Vereinsgeschehen. Petit-Pays’ Appell: “Caiman hat als Team seine Wurzeln im Stamm der Sawa, das ist wahr. Aber Caiman ist über all dem ein Team aus Kamerun und Afrika!”