Zeitlosigkeit von Freiheit und Unterdrückung

Vorwort zu "Beethovens 'Fidelio' und die Freiheit Österreichs"

Mit der vorliegenden wissenschaftlichen Abschlussarbeit stellte ich Beethovens “Fidelio” bereits 1995 in den Mittelpunkt meiner mehr als einjährigen historischen Forschung. Sowohl die Oper als auch deren Rezeption ermöglichten es mir, geschichtliche Analyse mit einer meiner Vorlieben zu verbinden, dem Interesse für Kunst, Kultur und Politik. Diese Wissbegierde führte mich auf eine bemerkenswerte Spur, deren Verzweigungen zeitlos bleiben und somit auch Jahre später als wertvolle Hinweise auf die jeweilige Gegenwart gelesen werden können.

Der “Fidelio”, Beethovens Drama der Treue und Liebe, die Musik gewordene Versinnbildlichung des Widerspruches von Tyrannei und Hoffnung, Kerker und Rettung, dazu sein unerschütterlicher Glaube an Freiheit, an die Menschlichkeit, traf in Österreich augenfällig oft auf Beliebigkeiten zur Legitimation der Politik: Am 5. November 1955 erlebte der nach Nationalsozialismus, Vernichtung und Krieg wiedererrichtete Staat mit der Wiedereröffnung der Wiener Oper einen beachtenswerten Festakt der Freiheit und Befreiung, eine eindrucksvolle Manifestation der Souveränität und nationalen Unabhängigkeit. Kurz vorher schon hatten die alliierten Mächte das Land endgültig verlassen, damit war das erste Ziel erreicht. Nun aber bedurfte es auch künstlerischer Inszenierungen der Leidensgeschichte seines Volkes, der Vereinbarungen des Staatsvertrags. Im Rampenlicht des feierlichen Abends stand Beethovens “Fidelio”.

Der “Fidelio” allerdings, so mein eingängiges Erstaunen, tat dieses nicht zum ersten Mal – denn immerhin: Das traditionsreiche Haus am Wiener Opernring gab bereits am 27. März 1938 eine Festvorstellung der Oper, zu Ehren Hermann Görings, doch auch aus Anlass einer “Befreiung”, genauer: Der Eingliederung der nunmehr nationalsozialistischen “Ostmark” in Adolf Hitlers Deutsches Reich. Damit nicht genug: Die NS-Gewaltherrschaft wurde besiegt, Österreich ging aber wiederum als demokratische Republik im Jahre 1945 aus dem vorangegangenen Krieg hervor. Wenige Monate später schon wurde gefeiert – mit Beethovens “Fidelio”. Jetzt gab es an den ohnehin vermuteten Widersprüchen keinen Zweifel mehr: In Österreichs Zeitgeschichte verkörperte das Freiheitsopus schlechthin ein künstlerisches Kontinuum an wesentlichen Schnittstellen historischer Diskontinuität.

Anschließende Recherchen ergänzten diese Erkenntnis zuletzt noch um so manches weitere Kapitel, denn Aufführungen des “Fidelio” begegneten mir in Nachforschungen zum Austrofaschismus ebenso wie in jenen zur Ersten Republik. Im Zuge dessen führten sie sogar zum Lebensweg einzelner Persönlichkeiten, wie im folgenden des Stardirigenten und berühmten Österreichers Karl Böhm. Er beschwor Beethovens Drama als ganz persönliche Schicksalsoper, sah sich nach 1945 als Florestan der Nachkriegszeit, tatsächlich aber kannte er keine Kompromisse zwischen politischer Gleichgültigkeit und karrieristischer Opportunität. Doch überhaupt spielten Personen eine große Rolle: Darsteller und Sänger, Regisseure, Musiker, Direktoren, nicht zuletzt auch Bundeskanzler und Minister, Repräsentanten also aus Kunst, Kultur und Politik. Auch ihre Geschichte ist Teil der Geschichte dieses Österreichs. Vielfach sogar umklammert gerade ihr Werdegang entscheidende Stationen des “Fidelio”, denn die politischen Regimes wurden zwar verschiedentlich ausgetauscht, die historischen Akteure aber, Darsteller an der Oper etwa, blieben dennoch weitestgehend gleich.

Freiheit ist ein kostbares und zugleich unteilbares Gut. Keineswegs allerdings ist Freiheit eine Selbstverständlichkeit. Das besagen auch Wesen und Inhalt des “Fidelio”, und demnach messen sich bereits am Umgang mit der Oper selbst die Intensität und Qualität einer politischen Kultur. Diese Aspekte stehen allein im Vordergrund, musikwissenschaftliche hingegen nur insofern, als etwa daran konkrete Aussagen über Interessensbekundungen der jeweils vorherrschenden Kulturpolitik abzulesen sind. Dahinter aber steckt Kalkül: Die Schaffung kollektiven Bewusstseins, Willensbildung sowie auch Stiftung nationaler Identität. “Es sucht der Bruder seine Brüder …” – Julius Raab, der Bundeskanzler zur Zeit des Staatsvertrags, erklärte das zentrale Motiv des Ludwig van Beethoven zum Leitmotiv eines künftigen Österreichs. Somit begab sich Österreich – wie schon so oft zuvor – auf die Suche. Und mit der vorliegenden Arbeit schloss ich mich dieser Suche an.

 

Reviewed

“Es ist die große Leistung von Martin Wassermair, einen historischen Ort ermittelt zu haben, in dem sich Kontinuität und Bruch, Komplexität und Simplizität im Formierungs- und Deformierungsprozess deutlich manifestieren.

Aufführungen von ‘Fidelio’ fanden nicht nur an so zentralen Bezugspunkten der österreichischen Selbstfindung wie in den Jahren 1955 und 1945 statt. Über Beethoven verband sich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung mit der bürgerlichen Nation – damals jedoch der deutschen, und Beethoven ist auch als Bezugspunkt austrofaschistischer Diktatur erkennbar. Mehr noch, die Freiheitsidee dieser Oper nahm auch das NS-Regime als Festmotiv in Anspruch, wie die Aufführungen 1938 in Wien und 1941 in der besetzten slowenischen Steiermark zeigen.

Martin Wassermair hat Quellen und Literatur systematisch gesucht, gefunden, interpretiert und in einer Sprache vermittelt, die jenseits hilfloser moralisierender oder ironisierender Distanzierung historische Phänomene verdeutlicht, deren Tradition bis heute nur teilweise gebrochen erscheint.”

(Prof. Dr. Karl Stuhlpfarrer)

Das Buch

Martin Wassermair, Es sucht der Bruder seine Brüder – Beethovens “Fidelio” und die Freiheit Österreichs, Optimus Verlag (2010)

21 x 14,8 cm, 152 Seiten
ISBN 978-3-941274-61-7

* überarbeitete Version der gleichnamigen Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien im Dezember 1995

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