Judenhass: Wenn Menschenrechtsorganisationen nicht mehr Flagge zeigen

Konserve Kontroverse - die Kolumne mit Haltbarkeit

Shai ist Mitglied der jüdischen Jugend in Wien. Anfang Mai 2023 bewies er Selbstbewusstsein, als er im Rahmen der Internationalen Gedenk- und Befreiungsfeier in Mauthausen zum diesjährigen Thema „Zivilcourage“ sprach. Er erzählte davon, dass es für ihn immer gefährlicher werde, mit Kippa im Alltag öffentlich in Erscheinung zu treten. Seine Worte zeugten von Mut, während um ihn herum linke Gruppen bei der Mahnung vor der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft lautstark skandierten: „Niemals vergessen! Niemals wieder!“

Bereits fünf Monate später erreichte Shai ein eindringlicher Aufruf der Israelitischen Kultusgemeinde, angesichts des dramatischen Anwachsens antisemitischer Übergriffe am besten auf jede Symbolik, die seinen Glauben zum Ausdruck bringen könnte, gänzlich zu verzichten. Nach den Terror-Attacken der verbrecherischen Hamas auf Israel am 7. Oktober bahnt sich der Judenhass auch in Österreich wieder ungehemmt seine Wege. Die Dämme, an die so viele nach den Jahrzehnten der historischen Aufklärungsbemühungen glauben wollten, sind endgültig gebrochen. Jetzt herrscht wieder Angst – vor den Manifestationen, bei denen sich trotzkistische Sekten, islamistische Banden und Verschwörungsscharlatane mit Rechtsextremen zusammentun, vor den Hakenkreuzen an Synagogen und Friedhöfen sowie vor der gewaltbereiten Verachtung in den TikTok-Videos, die aktuell an den Schulen rasante Verbreitung finden.

In einem solchen Klima ist Teilnahmslosigkeit völlig fehl am Platz. Jüdinnen und Juden, die einfach nur endlich ein Leben in Sicherheit führen wollen, stellen ihre Verletzlichkeit in ein Verhältnis zur Gesellschaft, an der sie seit jeher teilhaben – und von der sie zu Recht erwarten, dass Solidarität und Rückhalt unverbrüchlich gewährleistet sind. Die Unversehrtheit ist auch ihr Grundrecht, das muss nach Shoah und Vertreibung gerade auch in Österreich völlig außer Zweifel stehen. Die Wachsamkeit hochzuhalten und das Bewusstsein dafür unablässig zu schärfen, ist Aufgabe von Organisationen, die sich Menschenrechte auf ihre Fahnen heften.

Das ist zudem keineswegs zu viel verlangt. Auch nicht von „SOS Menschenrechte“, das am 27. November 2023 das Jubiläum seines 30-jährigen Bestehens in Linz begehen wollte – in einem großen Festakt unter dem Titel „Jugend für Menschenrechte“, in dessen Rahmen neben ÖVP-Verfassungsministerin Karoline Edtstadler auch der Filmemacher Andreas Gruber sowie der Soziologe Kenan Güngör zu „Antisemitismus, Rassismus und Vorurteile in der Migrationsgesellschaft“ sprechen sollten. Doch dann kam plötzlich die Absage. Als Grund dafür wurde knapp zwei Wochen vor der Veranstaltung die „Sorge“ angeführt, dass der Vorstand und die Geschäftsführung „in der aktuell aufgeheizten Stimmung nicht ‚gehört‘ oder aber auch ‚missverstanden‘ werden“.

Zurück bleibt Fassungslosigkeit. In Anbetracht einer Entwicklung, in der Judenhass wieder mit voller Wucht um sich schlägt, gibt es keine Missverständnisse. Charlotte Herman, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in Linz, hat es anlässlich von 85 Jahren Reichspogromnacht am 9. November völlig klar ausgesprochen: „Wir Jüdinnen und Juden sind schon wieder unerwünscht. Da darf es kein ‚Ja, aber‘ geben!“ Auch sie war bei den 30-Jahr-Feierlichkeiten für einen Auftritt eingeplant. Die Verantwortlichen von „SOS Menschenrechte“ hätten ihr nur aufmerksam zuhören müssen. Nach der Absage können aber alle nur rätseln – und die eine oder andere Gewissheit in Frage stellen. Denn wenn Menschenrechtsorganisationen nicht mehr Flagge zeigen, entledigen sie sich ihres wichtigsten Daseinszwecks – der couragierten Verpflichtung zu Haltung und Kompromisslosigkeit!

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