“Alles in deutscher Hand!” Keine Ahnung, wie oft diese Grußformel als Antwort auf das simple “Wie geht’s?” zu hören war. Der Wortlaut ist mir noch in genauer Erinnerung. Wie auch der Eingangsbereich eines jener Gasthöfe im Zentrum der oberösterreichischen Gemeinde, die meinen Jugendjahren auf sehr anschauliche Weise das Gebot demütiger Unauffälligkeit vermittelte. Vielleicht ist dadurch zu erklären, dass sich auch beim Zweimüller, so die schlichte Bezeichnung für die in Grieskirchen durchaus beliebte Einkehrmöglichkeit, niemand an der überdimensionalen Glasvitrine mit den vielen Insignien des Kameradschaftsbundes stoßen wollte. Schon beim Betreten des Lokals hing das Auge fast zwangsläufig an der wuchtigen Anhäufung von Treueschwüren fest, geschmückt mit aufdringlichen Tatzenkreuzen auf Trauerflor, der den Bezug auf das große Schlachten der beiden Weltkriege zu einem nur allzu gewöhnlichen Wahrnehmungserlebnis verniedlichte. Wenige Meter davon entfernt blubberten ein paar Forellen im hauseigenen Aquarium. Soweit so unauffällig.
Die toten Soldaten beanspruchten – auch im Hinblick darauf, dass sich das Gedenken nicht auf die topographische Einschreibung von Kriegerdenkmälern ins Landschaftsbild beschränkte – vor allem eines: Öffentlichen und privaten Raum! Dieser Raum hielt “Kameraden” gesellschaftliche Wertschätzung bereit, nicht aber dem “Vaterlandsverrat”. Dazwischen landete man in einer unbekannten Zone – und beim Zweimüller in einem Sperrgebiet für skeptisches Murren und kritische Verweigerung. Als auffällig galt hier, wer die Landsermythen der Schützengräben vor Moskau und Stalingrad nicht mit Kopfnicken quittierte, wer an Marias unbefleckter Empfängnis zweifelte und wer sich mit dem bis in Kopfhöhe umzäunten Einfamilienhaus als alleiniger Quelle des Glücks nicht zufrieden geben mochte.
Der Katechismus der Wirtsstuben schuf so etwas wie allgemeine Verbindlichkeit. Dabei war die Gesinnungslage in Grieskirchen seit jeher auch an der sozialpartnerschaftlichen Anordnung der Gasthöfe im Stadtgefüge ablesbar. Die ÖVP versammelte ihre Getreuen am Kirchenplatz beim Schatzl, wo sich die Trinkfestigkeit der Allianz von Gewerbetreibenden und Bauernbund mit der gebotenen Gottesfurcht vorzüglich verbinden ließ. Ihre Gegnerschaft zur städtischen Sozialdemokratie äußerte sich – und das war schon das signifikanteste Unterscheidungsmerkmal – in der Distanz zum Wirtshaus Brandstätter, das seiner Klientel im entlegenen Bahnhofsviertel ein geselliges Stammtischdasein bot. Worüber geschwiegen wurde, war der allgemein bekannte Umstand, dass auch die Kreisky-Nostalgiegemeinde an diesem Ort gegen Fremde und Zugewanderte mit rassistischen Parolen Stimmung machte, während der konzessionierte Gastgeber und Spitzenkandidat der roten Gemeinderatsfraktion in einer nochmaligen Nebenrolle als Zimmervermieter ein ausgesprochen lukratives Zusatzgeschäft mit vor allem ausländischen Arbeitskräften des Umlands betrieb.
Beim Blick zurück ist nicht mehr von Bedeutung, welches der Gasthäuser in Grieskirchen am ehesten meine jugendlich-rebellische Missachtung verdiente. Und doch machte auch ich um den Zweimüller einen besonders großen Bogen. Aus gutem Grund: Jörg Haider, so hatte sich bis zu meinen Ohren durchgesprochen, war vor allem in den Jahren nach seinem putschartigen Aufstieg an die Spitze der FPÖ ein hier immer wieder gern gesehener Gast. Das Gebiet entlang der inneroberösterreichischen Grenze zählt zu den starken Mobilisierungszonen des Dritten Lagers. Dort, wo das Innviertel auf das Hausruckviertel trifft, zeigt das Alpenvorland gerne seine Muskeln. Ehrhaften Charakters ist, wer sich der Scholle verbunden fühlt. Wehrhaft ist, wer dafür auch das Nasenbein riskiert. Vielerorts genießen gebrochene Kiefer den Rang einer kulturellen Begleiterscheinung. Prügeleien dienen oft als rituelle Ersatzhandlung zur wechselseitigen Ermittlung der Manneskraft. Stark ist aber auch, wer in der Lage ist, sich mit Unmengen des in der Region sortenreich gebrauten Biers abzufüllen. Nach dem 13. September 1986 durfte sich der Zweimüller folgerichtig über klingelnde Kassen freuen. Der rechtsnationale Gipfelsturm am Innsbrucker Parteitag hatte nicht nur Norbert Steger und den liberalen Flügel der Freiheitlichen kurzerhand aus dem Weg geschafft, sondern zugleich auch deren Umklammerung durch den gewichtigeren Regierungspartner SPÖ. Bundeskanzler Vranitzky wollte keine Rabauken mit rechtsextremen Verhaltensauffälligkeiten an seiner Seite dulden und suchte nach den Neuwahlen im November die großkoalitionäre Eintracht mit der ÖVP. Da wurde eben auch im Kreise der Grieskirchner Haider-Gefolgschaft gelärmt und gepoltert und – angesichts einer anhaltenden Serie von Wahlerfolgen – immer wieder triumphiert. “Wie geht’s?” Für die Handvoll Jugendlicher, die wir uns als legitime Nachkommenschaft des antifaschistischen Widerstandskampfes wähnten, dem politischen Aufstieg der blauen Horden allerdings mit “Nazis raus!”-Annähern und einer angewiderten Ohnmacht gegenüber standen, war der Zweimüller damit endgültig in deutscher Hand.
An einem Spätnovember-Abend des Jahres 1988 hieß es daher für mich umso mehr, jene Portion Mut aufzubringen, die einem 17-Jährigen neben inszenierter Unverfrorenheit vor allem auch einen kämpferischen Gestus verleiht. Die Elternvereinigung der Pflichtschulen Grieskirchens hatte zu ihrer Jahreshauptversammlung geladen – und das ausgerechnet beim Zweimüller. Nicht dass ich in den hinter der Gaststube gelegenen und mit Schützenscheiben ausstaffierten Festräumen meine Linie verlassen und in der antagonistischen Frontstellung meiner allmählich ausklingenden Pubertät eine Allianz mit der anderen Seite suchen wollte. Nein, mitnichten! Das in großer Zahl erschienene Publikum erwartete eine hitzige Kontroverse, ein “heißes Eisen”, wie auch die lokalen Medien vorab verkündeten. Nach Abwicklung der formellen Vereinserfordernisse stand der Sexkoffer zur Diskussion, der quotenträchtige Aufreger schlechthin, der die städtische Harmonie über viele Monate auf eine schwere Probe stellte.
Schon im Vorfeld der Veranstaltung hatte das legendenumwobene Phantom an Österreichs Schulen auch die beschauliche Trattnachtal-Gemeinschaft erfasst und aufgewühlt. Als drohte Grieskirchen die Gefahr, in die verwerfliche Ahnenreihe von Sodom und Gomorrha hinabsteigen zu müssen, richteten sich die Zeigefinger der Empörung in die Höhe, wurden Direktionen verschiedenster pädagogischer Einrichtungen dem Volkszorn ausgesetzt und – in den schlimmsten Fällen – Lehrkräfte öffentlich stigmatisiert und bis in die Privatsphäre verfolgt. Beschimpfungen, Flegeleien und gar nicht so selten Handgreiflichkeiten begleiteten die nahezu missionarisch beseelte Jagd. Die Zerwürfnisse setzten sich bis tief in die Familien fort. Gar nicht wenige wussten davon zu berichten, dass die heimelige Stube bis in den letzten Herrgottswinkel unter dem Gebrüll der tobenden Väter erzitterte, wenn der schulpflichtige Nachwuchs mit einer im Aufgabenheft vermerkten Nachdenkübung zur Masturbation und der Entdeckung des eigenen Körpers nach Hause kam.
Unsere Adoleszenz war damit endgültig in den Sog geschichtsträchtiger Entwicklungen geraten. Ein Politschauspiel, das Österreich schon seit vielen Jahren und mit unzähligen Akten in Atem gehalten hatte, stand jetzt auch im “Landl” am Programm. Mit einem Erregungsfaktor, der den Boulevardmedien bereits in den 80er Jahren hohe Verkaufszahlen bescherte – und der Provinz einen Paukenschlag der Entrüstung. Dabei stützte sich das Wissen, das mit dem anwachsenden Variationenreichtum schnelle Verbreitung finden konnte, in erster Linie auf das Hörensagen. In meinem Umkreis – und das war für mich das Erstaunlichste – hatte niemand bislang den Sexkoffer zu Gesicht bekommen. Die Ansichten, die in der Vielzahl der erhitzten Wortgefechte aufeinander prallten, betonten dafür umso leidenschaftlicher das Kindeswohl. So auch beim Zweimüller, als die erste der beiden Podiumsdiskutantinnen gegen das drohende Ungemach zu Felde zog. Der Sexkoffer ermuntere zur Homosexualität und mache die Eltern lächerlich. Kurzum: Die reinste Pornographie! Karin Praxmarer, Leibeserzieherin am heimischen Gymnasium und eine stramme Athletin des für seine rechtsextremen Grenzgänge bekannten Österreichischen Turnerbunds, war nach dem Stimmengewinn der FPÖ 1986 als enge Vertraute Jörg Haiders in den Nationalrat eingezogen. In Wien übernahm sie für die Partei die Aufgabe der parlamentarischen Schul- und Erziehungssprecherin. Ilona Graenitz, an diesem Abend die Verfechterin der Regierungslinie, konnte dem Heimspiel ihres freiheitlichen Gegenübers kaum nennenswerte Argumentationserfolge entgegen setzen. “Jeder Mensch”, so gab die SP-Abgeordnete dem in Unruhe versetzten Auditorium zu verstehen, “ist über sein eigentliches Menschsein hinaus auch Mann und Frau – die Geschlechtlichkeit der Menschen sollte also nicht geleugnet werden!” Ach, du meine Güte! In dieser Sekunde erhellte sich erneut die Überzeugung eines Heranwachsenden, dass dem miefigen Gebräu aus Altnazi-Spuk, klerikal-autoritärer Besserwisserei und angepasster Rückgratlosigkeit nicht mit den Mitteln der guten Kinderstube beizukommen war. Der Moment glich jedenfalls einem reinigenden Gewitter. Ungeachtet der Tatsache, dass die in den zwei Stunden angestaute Wut angesichts der nervös geballten Fäuste nicht mehr zu verbergen war, eröffnete sich mir beim Zweimüller eine tiefgründige Erkenntnis: Im Sexkoffer steckte vor allem eines – die Offenbarung einer Welt, in der ich unumstößlich lebte!
Die staatliche Einsicht, dass österreichische Schulen eine zeitgemäße Sexualerziehung bitter nötig haben, lässt sich bis zu einem Grundsatzerlass der Bundesregierung im Februar 1970 zurück verfolgen. Insbesondere war aber nach dem Ende der ÖVP-Alleinregierung die mit zahlreichen Studien untermauerte Feststellung, dass man im europäischen Vergleich deutlich hinterher hinke und mehr als 40 Prozent der Eltern nicht in der Lage seien, ihre Kinder aufzuklären, nicht länger unter Verschluss zu halten. Die Häufigkeit von Schwangerschaften bei Teenagern und ein deutliches Anwachsen der Abtreibungszahlen zeigten die Realitäten unnachgiebig auf und durften nicht weiter tatenlos zur Kenntnis genommen werden. Mitte der 80er Jahre regten sich konservativ-kirchliche Widerstände, als erstmals bekannt wurde, dass neue Unterrichtsbehelfe dem seit eineinhalb Jahrzehnten erforschten Wunsch der Jugendlichen Rechnung tragen sollten, “über Sexualität sprechen zu können”. Der “Medienkoffer Sexualerziehung” – im Volksmund schon sehr bald zum geradezu berüchtigten “Sexkoffer” mutiert – war damit geboren. Er entschlüpfte ministerialrätlichen Konzeptschmieden, die es fast ohne Ausnahme verabsäumten, der öffentlichen Aufregung durch entsprechende PR-Maßnahmen und sachliche Information den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Und auch Friktionen innerhalb der Regierung stellten das Vorhaben im Laufe der Zeit unter einen zunehmend schlechten Stern. Hatte 1984 zwischen Unterrichtsminister Herbert Moritz und Familienministerin Gertrude Fröhlich-Sandner noch sozialdemokratische Einigkeit geherrscht, so fand diese schon im Jänner 1987 ein jähes Ende, nachdem das Familienressort nunmehr dem Koalitionspartner ÖVP zugesprochen worden war. Die neuen politischen Verhältnisse spiegelten sich schon sehr bald in der konkreten Realisierung der Materialien zur Sexualerziehung wider, die zwei Teile umfassen sollten. Einen wissenschaftlichen sowie einen didaktischen. Für den ersten Part, der sich den “biologischen Aspekten der Sexualerziehung” widmete, zeichnete fortan Marilies Flemming verantwortlich. Sie hatte bereits kurz nach Übernahme des Familienressorts den um Sitte und Moral besorgten Protesten nachgegeben und ihren Beitrag entsprechend aufgeweicht. “Wir müssen”, so zitierte das Nachrichtenmagazin profil das christkonservative Regierungsmitglied im Mai 1989 in einer Rückschau auf die schier endlose Konfliktgeschichte, “zuerst von der Würde der Person erzählen und dabei eingestehen, daß Zärtlichkeit aus dem Herzen kommt und nicht aus der Trickkiste irgendwelcher Praxisanleitungen”. Die Neo-Ministerin hatte sich über die Forderungen, die Aufklärung der Kinder nicht der Zensur durch ÖVP und Klerus zu opfern, letztlich unerschrocken hinweg gesetzt. Doch damit noch kein Ende. Eine nochmalige Steigerung erfuhr die kollektive Erregung, als SP-Unterrichtsministerin Hilde Hawlicek ebenfalls dazu überging, die Ergebnisse der vielen Beratungen mit Eltern und Lehrkräften sowie der wissenschaftlichen Expertisen zu einem abschließenden Paket zu schnüren, um Flemmings Materialiensammlung mit einem zweiten Teil unter dem Titel “Partnerschaft: Liebe mit Verantwortung” zu ergänzen.
Was schon zu diesem Zeitpunkt niemand so richtig zur Kenntnis nehmen wollte, war das Faktum, dass der Sexkoffer nie dazu ausersehen war, zwischen Jausenbrot und Rechenstift in die Schultasche der Kinder gepackt zu werden. Gemäß der Regierungsübereinkunft wurde eine Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten angestrebt, mit dem primären Ziel, “den Lehrern eine Handreichung zur Erfüllung der Lehrplanforderungen mit dem Schwerpunkt für Dreizehn- bis Fünfzehnjährige zu bieten”. Die Botschaft war demzufolge auch klar und deutlich: “Wir wollen ermutigen”, beteuerte Frank Chisté als ministerieller Projektkoordinator unermüdlich, “Gefühle zu akzeptieren und körperlichen Kontakt normal werden zu lassen”. Doch die Verunsicherung wuchs rapide an, als – ohne näheres Detailwissen – erste Inhalte die medial beschleunigte Österreichrunde machten. Der Sexkoffer verlange, so sprach sich herum, von den Kindern Berührungsspiele und ähnlich verwerfliche Gruppenaktivitäten, schnell folgte die Angst der Elternvereinigungen vor ausufernden Eklats. Besonderen Zorn zogen Informationen über eine Passage nach sich, die “Necking und Petting” mit einer altersgerechten Definition zu erklären versuchte: Als “Liebkosungen wie das Küssen von Mund, Augen, Ohrläppchen, das Streicheln des Kopfes und der Brüste, das zärtliche Flüstern von Koseworten sowie das Fühlen und Spüren des ganzen Körpers des Partners, mit Ausnahme der Genitalien”. Ein Kärntner Elternverein verteufelte nicht zuletzt deshalb den neuen Unterrichtsbehelf als “Mist- und Schmutzkoffer”, die Plattform Ärzte für Leben sah darin den “Versuch zur Verführung Abhängiger zur Unzucht” und die katholische Organisation Pro Vita befürchtete gar eine “schleichende Christenverfolgung”. Für besonders lautstarkes Trommelfeuer sorgte immer wieder der ultraorthodoxe Moraltheologe Andreas Laun, der den Sexkoffer mit einer “Aufklärung wie im Hinterhof” verglich. “Was kommt heraus?”, schrieb er Mitte September 1988 in der katholischen Wochenschrift Präsent. “Rund heraus gesagt: wiederum die Dirnenaufklärung – allerdings wie ein Edelmafioso, dem die Polizei nichts nachweisen kann. Grinsend wie ‘das Geld’ im ‘Salzburger Jedermann’ aus der Truhe, steigt aus dem Koffer nicht die erlösende Liebe, sondern eine Dirne, die verlangt, ernstgenommen zu werden, weil sie das Gewand der Wissenschaft angelegt hat und sich auf die Autorität des Ministeriums berufen kann.” Die konservativ-kirchliche Allianz, die sich mit den Emporkömmlingen der Haider-FPÖ über zusätzliche Schubkraft für den Abwehrkampf freuen durfte, schürte die Animositäten unaufhörlich weiter und nahm das Land mit längst vergangen geglaubten Methoden geistig-moralischer Selbstjustiz in eine bis 1989 andauernde Geiselhaft.
Auch Grieskirchen blieb davon nicht verschont. Warum allerdings die Fegefeuer-Phantasien hier auf besonders fruchtbaren Boden fielen, lässt sich gar nicht so leicht ergründen. Vielleicht eröffnet ein historischer Blick in die Zeit der Stadterhebung nähere Aufschlüsse, wiewohl das heute für kaum jemanden noch von Interesse ist. Dabei war – diese Feststellung drängt sich nahezu auf – der Ehrgeiz des Gundacker von Pollheim im Februar 1613 so etwas wie eine frühe Grundsteinlegung eines Jahrhunderte überdauernden kulturell-hegemonialen Überbaus. Ihm kam zugute, dass die herrschaftstreue Region durch ihre besonders blutige Niederschlagung des aufständischen Protestantismus auf sich aufmerksam machen konnte. Lutherische Glaubensspaltung, soziale Unruhen, vor allem aber die verzweifelten Versuche der bäuerlichen Leibeigenen, sich von ihren unerbittlichen Herren zu emanzipieren, wurden in und um Grieskirchen mit aller Gewalt unterbunden. Kaiser Matthias wusste die Loyalität zum katholischen Hause Habsburg zu schätzen und dankte es mit dem urkundlich verbrieften Privilegium. Knapp 400 Jahre später ist Grieskirchen eine Stadt, die sich – mal abgesehen vom Bezirksmuseum, in dem noch immer spätneuzeitliche Mordinstrumente wie Hellebarden, Vorderlader und Morgensterne als Identität stiftende Anschauungsobjekte zu bestaunen sind – um ein urbanes Erscheinungsbild bemüht. Schulstadt, Braustadt, Einkaufsstadt. Hinter der modern und erfolgreich anmutenden Fassade herrschen jedoch weitgehend eintönige Stille, Demut und Zufriedenheit. Und so empfiehlt sich seit ehedem: Wer in Grieskirchen aufwächst, passt sich an und bleibt am besten unauffällig.
Aber dennoch: Der Idylle des Landlebens, von der Tourismus-Werbung zumeist mit drallen Dirndln und kernigen Burschen vor Mähdreschern, Bierkutschen oder voluminösen Erntedank-Ensembles ins Bild gesetzt, wehten in den 80er Jahren die unaufhaltsamen Trends einer globalisierten Wirklichkeit immer stärker um die Ohren. Entlang der Fernstraße, die sich mit Schwerverkehr und rekordverdächtigen Emissionswerten durch unseren Mikrokosmos bohrte, raste die große, weite Welt nicht mehr nur vorbei, sondern machte immer öfter auch vor unser aller Augen Halt. Noch hatten wir die unbedarfte Kindheit nicht lange hinter uns gelassen, war die Logik der kapitalistischen Warenwelt bereits allgegenwärtig. Sex sells! Das Gewinn bringende Verkaufsprinzip suchte sich auch in Grieskirchen seine Wege auf die Titelblätter des Boulevards, ins TV-Programm, auf Plakatwände, in Werbekataloge des Autohandels sowie – und dem galt unsere besondere Aufmerksamkeit – in das in diskret rote Umschläge gefasste Zeitschriftenangebot des Lesezirkel-Vertriebssystems, auf das wir uns vor jedem Haarschnitt beim Friseur, im ärztlichen Wartezimmer oder während der seltenen Kaffeehausaufenthalte im Familienkreise begierig stürzten. Obwohl auch ich die Schamesröte zumeist kaum verbergen konnte, hielt ich eisern daran fest, in der Praline und Neuen Revue auf sehr verstohlene Weise zu erkunden, woran auch mir bei deren Lektüre am ehesten gelegen war – an der wahren Nacktheit. Hier ließ sich aber auch in Erfahrung bringen, was großbusige Blondinen von ihren Sexerfahrungen am Arbeitsplatz zu erzählen wissen, wie Männer, die notorisch fremdgehen, zu mehr Ausdauer gelangen, und welche Stellung von Sekretärinnen aus Wuppertal oder ölverschmierten Maschinenschlossern aus Castrop-Rauxel beim Geschlechtsverkehr bevorzugt wird. Doch auch die genuin österreichischen Druckwerke, die als so genannte Zeitgeist-Magazine den gesellschaftlichen und kulturellen Eigenheiten der 80er Jahre Rechnung tragen wollten, waren dem frühen Tittytainment – ein Begriff, der erst ein Jahrzehnt später seine eigentliche Hochkonjunktur erleben durfte – sehr schnell gefolgt. Ich erinnere mich an mein besorgtes Erstaunen, als eine Unmenge völlig entblößter Frauen im Wiener, es kann aber auch im zum Verwechseln ähnlichen Basta gewesen sein, ein an Psychotests angelehntes Verfahren zur Ermittlung des politischen Standorts auf einer Links-Rechts-Skala bebilderte. Je größer das Gefallen an üppigen Rundungen, desto deutlicher neigte das Ergebnis in Richtung faschistischen Totalitarismus. Für mich, der ich mich längst zum einsamen Dasein eines Revolutionärs und dem Kampf gegen die Diktatur des Establishments verpflichtet hatte, erwies sich das Resultat als tiefe persönliche Beleidigung. Warum sollte ausgerechnet die Vorliebe für kleine Brüste das glaubwürdigere Merkmal des Befreiungskampfes der unterdrückten Werktätigen sein? Aufgrund der Befürchtung, dass mein zweifelnder Voyeurismus als Nachweis eines hormonell unter Druck geratenen jungen Mannes verstanden werden könnte, wagte ich es nicht, mich diesbezüglich bei sachkundigen Auskunftsmöglichkeiten umzuhören, womit die Frage letztlich in Vergessenheit geraten musste.
Mit der Überzeugung, die Pforten der Stadt ließen sich vor dem Sexkoffer verschließen, bekundete auch in Grieskirchen ein beachtlicher Anteil seiner Bevölkerung eine mehr als nur eifernde Realitätsverweigerung. Anders ist nicht zu erklären, dass man offenkundig nicht wahr haben wollte, was in der zweiten Hälfte der 80er Jahre nicht mehr zu leugnen war. Mit pickeligen Gesichtern stürmten wir noch als Schulpflichtige die kleine Filiale der traditionsreichen Handelskette Palmers, die auch in Grieskirchen auf Plakate gedruckte Schönheiten in hauchdünner Unterwäsche für nur 20 Schillinge zum Verkauf anbot. Und es war ebenso kein Problem, dass wir als 14-Jährige im städtischen Lichtspieltheater, das mit seiner kaugummiverklebten Vollholzausstattung noch in der gleichen Dekade dem großen Kinosterben zum Opfer fiel, reinste Pornographie zu sehen bekamen. In so mancher späteren Nachmittagsvorstellung, sei es bei einem der Billigstreifen mit Mike Krüger, dem Klamauk von Dieter Hallervorden oder auch bei einer von Bud Spencers Prügelorgien, erlaubte sich der nebenberufliche Filmvorführer gerne gelegentlich den Jux, bis zu 15 Minuten lange Trailer des nächtlichen Programms einzuspielen, das ausschließlich den Erwachsenen vorbehalten war. Mit offenen Mündern bestaunte dann das dünn gesäte, vor allem aber jugendliche Publikum den ins Großbild gerückten Massenkoitus. Bei einer zumeist übersteuerten Lautstärkenregelung wurden wir auf dem Höhepunkt unserer Pubertät in die für uns geheimnisvolle Welt der Fellatio eingewiesen. Die Irritationen waren unausweichlich, die eigentlichen Hauptfilme dann meistens auch nicht mehr in Erinnerung. In Grieskirchen wussten alle irgendwie davon – aber immer dann eben auch sehr unauffällig.
Unterdessen hielt die Stadt am Gefüge der gastronomischen Ordnung fest, wurden beim Brandstätter schmutzige Witze ausgetauscht und beim Schatzl die Tipps zwischen Bauernbundmitgliedern und der jungen Wirtschaft, wie dem Finanzamt am ehesten ein Schnippchen zu schlagen ist. Beim Zweimüller hatten die toten Soldaten weiterhin das ganze Jahr über Hochsaison, während sich neue Erzählungen zu den Mythen aus den Schützengräben der beiden Weltkriege gesellten. Hier klopfte man sich gerne auf die Schenkel, wenn jemand am Stammtisch davon berichten konnte, dass der im benachbarten Bad Schallerbach angesiedelte Goretti Bund wieder einmal mit besonderer Inbrunst den “Großkopferten” in Wien die abgrundtiefe Verachtung für den Sexkoffer zum Ausdruck gebracht hatte. Die militant-katholische Splittergruppe orientierte sich konsequent an ihrer Namensgeberin, der italienischen Märtyrerin Maria Goretti, und hinterließ – gemeinsam mit dem in den 80er Jahren besonders gefürchteten Pornojäger Martin Hummer – in den Machtzentren der Republik den Eindruck, als befänden sich Grieskirchen und das Umland an der Spitze eines Kreuzzuges, der sich mit religiösen Wahnvorstellungen gegen globale Veränderungen in Politik, Gesellschaft und Familie stemmte.
Mit der Auseinandersetzung rund um den Sexkoffer verbinden sich für mich bis heute entscheidende Momente der Politisierung meiner Jugendjahre. Wenn ich auch die Materialiensammlung zur Sexualerziehung in den Jahren der durch sie selbst ausgelösten Erregung nie in Händen halten konnte, verfügte ich fortan über wertvolle Erfahrungen mit einem noch immer nicht ausgestandenen Kulturkampf im Marschgepäck. Auf sie stützte ich meine Hoffnung, das Wesen dieses Landes eines Tages vielleicht in vollem Umfang zu erhellen. Und schon im November 1989 kehrte ich Grieskirchen den Rücken, um der Sache in Wien mit dem Studium von Geschichte und Politik noch weiter auf den Grund zu gehen.
Editorial
Zwei Jahrzehnte später… – Warum dieses Buch geschrieben werden musste