Fake News, Bots und algorithmische Meinungsmache

Politik und Medien im Zeitalter der digitalen Desinformation

Mit dem russischen Angriffskrieg am 24. Februar 2022 gegen die Ukraine haben auch die digitalen Konfliktzonen eine neue Dimension erreicht. Mehr als in den militärischen Aufeinandertreffen der jüngeren Vergangenheit zieht der Kanonendonner auf Mariupol, Charkiw und Kiew einen gewaltigen Informationssmog nach sich, bei dem neben den vielen Opfern auch noch eines an der Medienfront zu beklagen ist – die Wahrheit. So schnell die Bilder des Tötens mittlerweile übertragen werden, so wenig Zeit bleibt für deren kritische Rezeption. Je dichter die audiovisuelle Komposition des Grauens, umso entleerter wirken Vernichtung und Zerstörung. YouTube, Instagram und vor allem auch TikTok liefern auf beiden Seiten der Kriegsparteien die verstörenden Eindrücke in Form von in Sekunden gefassten Kurzclips, mitunter mit flotten Sounds hinterlegt, die einen vermeintlichen Heroismus ebenso blitzlichtartig und meist ohne Kontexterläuterung auf das Smartphone übertragen wie das unsägliche Leid, das moderne Hightech-Waffensysteme heutzutage über die Menschen bringen.

Verseuchung der Kommunikationskanäle

Hinzu kommt, dass Russlands Präsident Wladimir Putin diesen völkerrechtswidrigen Aggressionsakt mit Narrativen begründet, die Desinformation, Irreführung und Manipulation mannigfaltig in sich vereinen. Da wird die NATO zur eigentlichen Kriegstreiberin erklärt, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine durch entstellte historische Zusammenhänge diskreditiert und die humanitären Katastrophen bei der Fortdauer der Verwüstung kurzerhand zur notwendigen Abwehr einer angeblichen Bedrohung durch den Westen umgedeutet. Die Verbreitung von Halb- und Unwahrheiten zählt längst zum Repertoire der Kriegsführung, was zwar eine ohnehin ausgereifte Erkenntnis weiter festigt, aber ebenso die Ratlosigkeit fortschreibt, wie der Infodemie, so die neuartige Beschreibung für die Verseuchung der Kommunikationskanäle durch gezielte Falschmeldungen und Fake News, tatsächlich zu begegnen ist.

Nachweise für diese beunruhigende Entwicklung gibt es unterdessen zuhauf. Abseits des Krieges gegen die Ukraine sorgte etwa im Herbst des Jahres 2021 Frances Haugen für große internationale Aufmerksamkeit. Sie nutzte ihren Auftritt vor dem US-Kongress, um der Öffentlichkeit die Machenschaften der Plattform Facebook detailgenau zu erläutern. Die Informatikerin und spätere Whistleblowerin konnte reichlich Insiderkenntnisse aus dem von Marc Zuckerberg geschaffenen Internetgiganten nach außen tragen, war sie doch schließlich Teil eines Teams, das sich ursprünglich um Falschinformationen kümmern sollte. Tatsächlich erfuhr die Welt nunmehr von einem undurchschaubaren Dickicht an Algorithmen, die hasserfülltem Content keinerlei Einhalt gebieten, so Frances Haugen, stattdessen aber Gewaltdarstellungen im Ranking deutlich bevorzugen, was wiederum in erster Linie Jugendliche allzu oft zu kriminellen Verhaltensweisen, Suizidversuchen und gar Amokläufen verleite. Was kritische Stimmen ohnehin seit vielen Jahren zu beklagen wussten, hat somit eine Bestätigung für die gefährliche Vormachtstellung von Social Media erfahren, deren skrupellose Machenschaften fortan mit selbstbewusster werdenden Einschränkungen einer medienpolitischen Kontrolle zu rechnen haben.

Coronaleugnung, Impfgegnerschaft, Antisemitismus

Dessen ungeachtet muss man gar nicht in die Ferne schweifen, um die Schauplätze von Fake News, Bots und algorithmischer Meinungsmache aufzuspüren – da bleibt selbst die österreichische Innenpolitik nicht mehr außen vor. Groß war die Überraschung am 26. September 2021, als am Abend der oberösterreichischen Landtagswahl ein Ergebnis verkündet wurde, das der bislang unbekannten MFG (Menschen, Freiheit, Grundrechte) vom Stand weg den Einzug in das Landesparlament bescherte. 6,3 Prozent der Wählerinnen und Wähler schenkten der Partei ihr Vertrauen, was durchaus erstaunte, stützte sich deren Mobilisierung doch sehr stark auf einen Kommunikationsraum abseits des medialen Mainstreams, von dem die Öffentlichkeit zuvor kaum nennenswerte Notiz genommen hatte. Im dubiosen Umfeld von Coronaleugnung, Impfgegnerschaft sowie Antisemitismus und Staatsverweigerung hat sich mit MFG jedenfalls eine neue Oppositionskraft etabliert, die sich der Desinformation erfolgreich zu bedienen weiß. Vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten Wissenschaftsfeindlichkeit, gepaart mit einer großen Anfälligkeit für Verschwörungserzählungen, wie etwa aktuelle Untersuchungen des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) zur Gefolgschaft der QAnon-Bewegung auch für Österreich belegen (Stepanek 2022), sind Mundpropaganda, Protestversammlungen sowie vor allem die Nutzung des vielfach kritisierten Messengerdienstes Telegram durchaus in der Lage, den traditionellen Parteien und ihrer kostenintensiven PR-Maschinerie die Stirn zu bieten.

Doch wie kommt es, dass Meinungsbildung und öffentliche Debatten in einer demokratisch verfassten Gesellschaft derart tiefgreifend in Mitleidenschaft geraten? Hasserfüllte Parolen gegen die Errungenschaften der Medizin sind aus historischer Perspektive hinlänglich bekannt. Die Vergangenheit kennt auch Schmährufe gegen die “Lügenpresse”, ebenso werden parlamentarische Entscheidungsfindungen immer wieder als “Zwangsherrschaft” und “Diktatur” verächtlich gemacht. Tatsächlich kennt diese Gesellschaft auf ihrem Weg in das Zeitalter der Desinformation Kontinuitäten und Brüche, Überlieferungen und in die Zukunft weisende Narrative, die allesamt in der Politischen Bildung noch mehr kritische Beachtung finden müssen.

Platons Höhlengleichnis

In diesem Zusammenhang hat Platons Höhlengleichnis nicht an Bedeutung eingebüßt. Der griechische Philosoph der Antike lässt seinen Lehrer Sokrates zu Beginn des siebenten Buchs seines epochalen Werk “Politeia” davon erzählen, dass die geschundenen Menschen, die in der Tiefe ihr Dasein fristen müssen, die Schatten an den Wänden als ihre Wirklichkeit erachten. Tatsächlich aber, wovon niemand weiß, handelt es sich bei dem kärglichen Licht des Feuers lediglich um die Schattenprojektionen ihrer selbst – und was sich da vor den Augen der Leidgeprüften abspielt, gilt ihnen fortan als über jeden Zweifel erhabene Wahrheit.

Das Gleichnis zielt darauf ab, den Unterschied zwischen dem trügerischen Schein und den Realitäten aufzuzeigen. Nicht anders verhält es sich in der Gegenwart, die mit der rasant fortschreitenden Entwicklung von digitalen Kommunikations- und Informationstechnologien die kognitive Wahrnehmung vor große Herausforderungen stellt. Durch die enorme Datenflut werden die Labyrinthe der Höhlen weitläufiger und verzweigter, für viele Menschen ist es schwierig, in der Medienwelt eine differenzierte Orientierung zu bewahren. Die Digitalisierung treibt den Alltag zudem hektisch voran, sie redefiniert Arbeitswelten, Bildungssysteme sowie das Verhältnis von Journalismus und Publikum. Spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnen sich folgerichtig auch weitreichende Verschiebungen der globalen Informationsarchitekturen ab. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, dessen Expertise zum  Einfluss von Social-Media-Plattformen auf Politik und Gesellschaft vor allem durch sein 2018 erschienenes Buch “Die große Gereiztheit” große Popularität gefunden hat, skizziert folgende Trends für die aktuellen Entwicklungen (Pörksen 2022):

Medien sind einem bislang unbekannten Geschwindigkeitsdruck ausgesetzt, der vor allem dem Gebot der redaktionellen Genauigkeit schadet. Der renommierte Netzphilosoph Peter Glaser hat diese Diagnose auf die Frage nach den Perspektiven des Journalismus im Internet in einer Formel auf den Punkt gebracht: “Information ist schnell. Wahrheit braucht Zeit” (Brückerhoff, o.J.). Zugleich entstehen neue Ungewissheiten. Das Mantra der Netzphilosophie der 1990er Jahre, demzufolge mehr Information die Menschen zu mehr Mündigkeit führe, hat sich als Irrtum erwiesen – mit zum Teil besorgniserregenden Konsequenzen. Die Notwendigkeit, mit neuen Kulturtechniken und dem Erwerb von Kompetenzen zur kritischen Welterkenntnis eine selbstbestimmte Ermächtigung zu fördern, erscheint heute dringlicher denn je. Schließlich leidet das Informationsklima unter einer steten Überhitzung. Die ständige Verfügbarkeit von Echtzeitquoten ruft eine informationelle Aufgeregtheit hervor, die schließlich in eine keinesfalls wünschenswerte Konfliktstellung mündet – in den Widerspruch zwischen dem Diktat der Interessantheit und dem Paradigma der Relevanz.

Redaktionelle Gesellschaft

Die Frage, was Bedeutung finden muss, sollte eigentlich Gegenstand gründlicher redaktioneller Verständigungsprozesse sein. Doch dies ist immer seltener der Fall, hat doch die Medienlandschaft (gemeint sind hier vor allem seit Jahrzehnten marktbeherrschende Printprodukte sowie Radio und TV) den digitalen Veränderungen und ihren sozio-kulturellen Implikationen viel zu spät und unzulänglich Rechnung getragen. Dabei sollte die Gatekeeping-Funktion längst nicht mehr nur altehrwürdigen Redaktionsstuben vorbehalten bleiben. Ihre oftmals paternalistisch anmutenden Belehrungen gegenüber Nicht-Informierten laufen angesichts der Vielzahl von Internet-Anwendungen, die nun Publizität und Meinungsartikulation ungeachtet ihrer Qualität fast uneingeschränkt ermöglichen, immer mehr ins Leere. Umso notwendiger sind vielversprechende Alternativen anzudenken. “Die Maximen einer redaktionellen Gesellschaft liegen bereits vor”, schreibt Bernhard Pörksen, “sie müssen lediglich aus ihrer allzu engen Bindung an eine einzige Profession gelöst und als Elemente einer allgemeinen Kommunikationsethik vorstellbar gemacht werden. Sie dienen dann nicht mehr nur der Orientierung von Journalistinnen und Journalisten, sondern einem größeren, übergeordneten Ziel: Sie sollen es der Gesellschaft erlauben, sich auf eine möglichst direkte, schonungslose und wahrheitsorientierte Art und Weise selbst zu beschreiben, ihre vielschichtigen und verstreuten Interessen zu sortieren und auszudrücken und auch Ohnmächtigen und Marginalisierten Stimme und Sichtbarkeit zu verschaffen, deren Einsichten und Ansichten sonst öffentlich nicht verfügbar wären. In diesem Sinne sind sie für eine lebendige Demokratie unabdingbar” (Pörksen 2018, 190).

Jürgen Habermas setzte in seiner Wahrheitstheorie noch auf “das Phänomen des eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Arguments”. Der angesehene Philosoph und Soziologe hatte zu Beginn der 1970er Jahre noch keine Ahnung, dass die Prozesse der Aushandlung schon dreieinhalb Jahrzehnte später von intransparenten Bots und Algorithmen geradezu spektakulär aus den Angeln gehoben werden. Damit fällt aber das Ideal des, wie Habermas es formulierte, “herrschaftsfreien Diskurses” mittlerweile völlig aus der Zeit. Machtaneignung und Entscheidungsprozesse folgen zunehmend der Logik einer Politik als postfaktisches Produkt. Davon zeugen alleine Donald Trump als US-Präsident der Jahre 2017 bis 2021, die Hetzkampagne gegen Kontrahentin Hillary Clinton, das knappe Referendum in Großbritannien zum Brexit, die auf Halbwahrheiten aufgebaute Meinungsmache, sowie Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, dessen Herrschaft aufgrund der Falschaussagen zu COVID19-Pandemie und Klimakrise bereits ins Visier der obersten Justizorgane geraten ist.

Sackgasse Faktenchecks

Was kann man also glauben? Der mit dieser Frage verbundene Zweifel verstärkt seit Jahren die Politikmüdigkeit vieler Menschen, entfremdet sie von den staatlichen Institutionen, schwächt das Vertrauen in Medien, Bildungseinrichtungen und Politik. Umso mehr muss auch Aufschluss finden: Wem kann man glauben? Angesichts der großen Datenmengen, die in Bubbles und Filterblasen in Wort und Bild zirkulieren, kommen bei Tageszeitungen und öffentlich-rechtlichen TV-Stationen immer öfter sogenannte Faktenchecks zum Einsatz, die gezielte Hilfestellung anbieten. Das klingt plausibel, doch es macht sich allmählich auch Skepsis breit, ob eine Überprüfung von Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt nicht vielmehr in eine Sackgasse führt. “Aktuelle Desinformationen werden vor allem deshalb für wahr gehalten”, erklären Matthias Kohring und Fabian Zimmermann vom Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Mannheim, “weil sie einer gänzlich anderen Sicht auf unsere Gesellschaft” entsprechen. “Es geht hier mithin gar nicht um die übliche Unterscheidung von wahr und falsch – es geht vielmehr alleine darum, ob eine Informationsquelle als vertrauenswürdig oder eben nicht vertrauenswürdig angesehen wird” (Kohring/Zimmermann 2019).

Wenn Bürgerinnen und Bürger der Politik nicht mehr vertrauen, sehen sie sich nur allzu oft im digitalen Raum nach Informationen um, die sie in ihrer Abwendung vom etablierten Parteiensystem meist noch bestärken. Hier kommt ein Phänomen zum Tragen, dem sich auch Heidi Kastner in ihrer psychologischen Analyse der Rahmenumstände widmet. “Angesichts der Zeit”, schreibt die renommierte Linzer Psychiaterin, “die Menschen heute im weltweit vernetzten Informationsspeicher verbringen, und angesichts der geradezu euphorischen Hoffnungen, die ursprünglich an den leichten Zugang zu Wissen geknüpft wurden, ist es nachgerade erstaunlich, dass sich das weltweite Netz eher zu einem weltweiten Problem entwickelt hat als zu einer Lösungsmaschinerie für Fehlentscheidungen durch Unwissen, Bildungsdefizite und medial vorselektierte Meinungen”. Kastner zieht daraus Schlussfolgerungen, die sicherlich auch in der Politischen Bildung noch weiter zu erörtern sind. “Die Ursachen dafür liegen wohl in der conditio humana, in der Anstrengung vermieden wird und Anstrengungsbereitschaft nicht gerade als Dauerzustand vorhanden ist. Sie liegen in der Kritiklosigkeit, mit der Informationen unabhängig von ihren Quellen als gleichwertig wahrgenommen werden, in der Möglichkeit, eigene Vor-Urteile bei anderen jederzeit bestätigt zu finden, um sich schließlich nur mehr mit Gleichgesinnten auszutauschen” (Kastner 2021, 32f).

Steht also der Zuspruch für Fake News und Falschmeldungen in enger Wechselwirkung mit dem anwachsenden Vertrauensverlust in die Politik, wird der Desinformationsordnung, die eine gezielte Vernebelung der Kommunikationssphäre intendiert, der gesellschaftliche Boden geradezu aufbereitet. Und wer sich gegen die Demokratie stellt, verschwendet für die Diskussionen um die “Wahrheit” keine Zeit, sondern will einem Gegenentwurf zur demokratischen Ordnung zum Durchbruch verhelfen – einer anderen, “alternativen” und “postfaktischen” Weltsicht, die sich den konventionellen Kriterien der Beweisführung völlig entzieht. In Österreich, wie auch in vielen anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, stehen dabei keineswegs individuelle Aussagen und Einzelmeinungen im Vordergrund, sondern mitunter großangelegte Erzählmuster, die in der öffentlichen Debatte häufig in Form eines rechtskonservativen und rechtsextremen Framings in Erscheinung treten. Das Resultat spiegelt sich dann in einer Vielzahl medialer Schlagzeilen und Aufmacher wider, die etwa Flucht und Migration in ein schlechtes Licht rücken, die Klimakrise verharmlosen und nicht zuletzt auch mit manipulierten Umfrageergebnissen an der politischen Machtverteilung der Republik mitwirken.

Teilhabe in Politik und Medien

Was ist nun daraus zu schließen? Wo kann Politische Bildung Anknüpfungspunkte finden, die aus Postdemokratie und zunehmend postfaktischer Deutungshoheit einen Ausweg weisen? Einen wichtigen Hinweis liefert die in der Ukraine geborene Ex-Politikerin und Publizistin Marina Weisband, die an den Schnittstellen von digitaler Gesellschaft und politischer Partizipation zahlreiche Projekte vor allem mit Jugendlichen leitet: “Sind Menschen in der Lage”, so Weisbands grundlegende Herangehensweise, “reflektierte Entscheidungen zu treffen, mit Rücksicht auf andere zu handeln, mit ihrer eigenen Freiheit zurechtzukommen? Meine tiefe Überzeugung ist: ja. Es muss die tiefe Überzeugung eines jeden Demokraten sein. Gibt man denselben Menschen also mehr Macht durch größere Öffentlichkeit, die ohne Gatekeeper funktioniert, beispielsweise über das Internet, haben sie mehr Verantwortung zu tragen. Und auch diese Verantwortung müssen wir ihnen zugestehen, ohne sie gängeln zu wollen” (Weisband 2021, 186).

Die globale Bewegung der Fridays for Future eignet sich wie kaum ein anderes Beispiel zur Veranschaulichung der Erfordernisse einer selbstbestimmten Aneignung der medialen Sphäre. Die junge Generation sieht heute wenig Veranlassung, die Problematisierung ihrer bedrohten Klimazukunft nach den vielen Enttäuschungen auch noch weiterhin den kaum ernstzunehmenden Erörterungen durch alte Politik und alte Medien zu überlassen. Lautstark betritt sie den öffentlichen Raum, sorgt mit zivilem Ungehorsam immer wieder für Irritation und Verwunderung – und das nicht so sehr aufgrund der Fehlstunden in der Schule, sondern weil Erzählung und Bildproduktion fortan nicht mehr nur in den Händen journalistischer Eliten liegen.

Demokratisierung der Bedeutungsproduktion

Es ist jedenfalls an der Zeit, die Grundzüge des politischen Systems unter den Vorzeichen der Digitalisierung und den damit verbundenen Möglichkeiten der algorithmischen Einflussnahme neu einzuordnen und zu bewerten – und dies nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Erfordernisse der repräsentativen Demokratie. “Politik”, zeigt sich der Kulturwissenschaftler und Journalist Michael Seemann überzeugt, “ist nicht mehr Interessenpolitik von Milieus, Gruppen oder Klassen, die dann in institutionellen Prozessen ausgehandelt wird, sondern Politik wird vielmehr zum Angelpunkt, über den sich aggregierte Kollektive wie WhatsApp-Gruppen, Foren, Netzwerke, Hashtags oder digitale Stämme erst zusammenfinden” (Seemann 2021, 369). Soziale Netzwerke, deren dezentrale Funktionsweisen in mitunter sehr kleinteiligen Räumen hier beschrieben werden, überwinden das traditionelle Verständnis der Massenmedien, skandalisieren und adressieren Machtmissbrauch, strukturelle Gewalt und Unterdrückung. #MeToo und #BlackLivesMatter haben eindrücklich aufgezeigt, dass Missmut und Protest sehr wohl politische Durchsetzungskraft finden, wenn sich der globalen Bewegung gegen Diskriminierung, Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit genug streitbare und aktivistische Stimmen lautstark anschließen. Dies gilt allerdings gleichfalls für identitäre Gruppen und rechtsextreme Parteien, für deren massenhafte Verbreitung von Verschwörungsideologien und auch für digitale Auswüchse einer staatsfeindlichen Agitation. Das digitale Zeitalter erklärt Politik eben zum “Resultat der Politisierung von allem” – und umfasst nunmehr “alles, was adressierbar ist und Resonanz findet” (Seemann 2021, 370).

Mit dieser Bestandsaufnahme wird zugleich deutlich, dass vor allem die Plattformen der Big-Tech-Industrie, die – am besten dargelegt anhand der Internetgiganten Google, Meta, Amazon und Apple – durch aggressive Monopolbildung und kapitalintensive Appropriation schon jetzt auf die technologische Entwicklung der Medienkonvergenz wegweisend Einfluss nehmen, einen ordnenden Eingriff in die Diskursräume der Zukunft unausweichlich machen. Abseits der staatlichen Regulierung, die auf Ebene der Europäischen Union bereits als dringend gebotene Aufgabe der Gesetzgebung für die elektronische Kommunikation wahrgenommen wird, sind umso mehr noch sozio-kulturelle Umgebungen gezielt zu etablieren, die neue demokratische und auf Pluralismus bedachte Narrative zu Tage fördern. Warum ist kulturelle Diversität eine gesellschaftliche Bereicherung? Wie leben wir in einer klimafreundlichen Welt ohne fossilen Energieverbrauch? Weshalb sollen Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft mehr Möglichkeiten zur politischen Teilhabe erhalten? Neue Erzählungen benötigen medialen Raum – mit einem offenen und gleichberechtigten Zugang als zentrale Voraussetzung der von Bernhard Pörksen postulierten “redaktionellen Gesellschaft”.

In diesem Zusammenhang kann gerade auch Politische Bildung durch eine stärkere Berücksichtigung medienpädagogischer Inhalte wertvolle Impulse bieten, dass sich so viele Menschen wie möglich an der audio-visuellen Bedeutungsproduktion beteiligen. Die Anwendungsbeispiele sind bereits mannigfaltig – vor allem aber soll hier der Sektor des nichtkommerziellen Rundfunks in Österreich besondere Erwähnung finden. Die Folgen von Krisen, Politikverdruss und individuell empfundener Machtlosigkeit treten zuallererst im unmittelbaren Lebensumfeld in Erscheinung. Mit 14 Freien Radios und drei TV-Stationen konnten sich jedenfalls zivilgesellschaftliche Schnittstellen etablieren, deren demokratischer Anspruch sich durch ein kritisches und selbstermächtigtes Einmengen in die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Realitäten verwirklicht (vgl. Seethaler/Peissl, 2020). Hier tun sich für die Politische Bildung zeitgemäße Aktionsgebiete auf, die zur Kooperation einladen, um auf breiter Basis davon zu überzeugen, dass Pressefreiheit, Menschenrechte, Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit alternativlos bleiben – und das vor allem auch im digitalen Zeitalter der Desinformation.

 

Quellennachweise

Brückerhoff, Björn (o.J.). Information ist schnell, Wahrheit braucht Zeit. Interview mit Peter Glaser, abrufbar unter: http://www.neuegegenwart.de/koepfe/peter_glaser.htm [08.04.2022]

Kastner, Heidi (2021). Dummheit, Wien.

Kohring, Matthias/Zimmermann, Fabian (2019). Fake News als aktuelle Desinformation, abrufbar unter: https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/290561/fake-news-als-aktuelle-desinformation/ [08.04.2022]

Pörksen, Bernhard (2018). Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München.

Pörksen, Bernhard (2022). Vortrag: Fakt & Fake. Wissenschaftsskepsis, Verschwörungsmythen und die neue Macht der Desinformation im digitalen Zeitalter. Persönliche Mitschrift, Symposion Dürnstein, 25. März 2022.

Seemann, Michael (2021). Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin.

Seethaler, Josef/Peissl, Helmut (2020). Public Value des Nichtkommerziellen Rundfunks, abrufbar unter: https://www.rtr.at/medien/aktuelles/publikationen/Publikationen/StudiePublicValue-2020.de.html [08.04.2022]

Stepanek, Martin (2022). Österreicherinnen und Österreicher für Verschwörungsideologien besonders anfällig, abrufbar unter: https://derstandard.at/story/2000134567681/ [08.04.2022]

Weisband, Marina (2021). Gestalten wir! Für eine bessere politische Zukunft, in: Hattke, Erik/Kraske, Michael (Hg.): Demokratie braucht Rückgrat. Wie wir unsere offene Gesellschaft verteidigen, Berlin, 181-191.