Kamerun: Die “unbezwingbaren Löwen” haben schon bessere Zeiten erlebt. Angesichts einer nicht enden wollenden Erfolglosigkeit hält die Nation umso mehr am Starkult und an den Mythen vergangener Tage fest. Die Wahl Roger Millas zum besten Spieler Afrikas des letzten halben Jahrhunderts kommt da sehr gelegen.
“Higuita, Higuita!” Es ist nicht ungewöhnlich, wenn in Kameruns Hauptstadt Yaoundé der Schmähruf nach dem ehemaligen kolumbianischen Nationaltorhüter in greller Stimmkoloratur erklingt. Schon die Jüngsten, die oft in Hinterhöfen trickreich um das runde Leder kämpfen, wissen vom tölpelhaften Fehler des Lateinamerikaners im WM-Achtelfinale des Jahres 1990. Damals hatte Roger Milla, der tanzende Torjäger und Favoritenschreck, in der 109. Minute blitzschnell reagiert und mit seinem Treffer zum 2:0 den Traum vom Aufstieg ins Viertelfinale wahr gemacht. Für das Land im Herzen Zentralafrikas war es eine Sternstunde. Sie stärkte die staatliche Einheit und das Selbstbewusstsein, sie war der Auftakt zu einem über die Grenzen hinaus reichenden Mythos, der bis heute ungebrochen scheint.
Zu Beginn des Jahres 2007 hat der Afrikanische Fußballverband (CAF) zur Wahl des besten Spielers des Kontinents der vergangenen 50 Jahre aufgerufen. Die meisten Stimmen der Internet-User entfielen auf Roger Milla, der die Ägypter Mahmoud El Khatib und Hossam Hassan auf die Plätze verwies. Die damit einher gehenden Freudentaumel waren wie eine Erlösung für Kamerun, das seit 2002 allen größeren internationalen Turnieren entweder fernbleiben musste oder – wie zuletzt 2006 beim African Cup of Nations – mit mäßigem Erfolg die Heimreise anzutreten hatte. Plötzlich wurde, so hatte es den Anschein, die kollektive Erinnerung aktiv. Die Erinnerung an das WM-Eröffnungsspiel am 8. Juni 1990 in Mailand, als die Nationalelf unter ihrem russischen Trainer Valeri Nepomniachi Titelverteidiger Argentinien 1:0 schlug. An den beherzten Aufstieg, der afrikanischen Teilnehmern so lange vorenthalten geblieben war. Und allen voran an die Galionsfigur der “lions indomptables”: Roger Milla.
Multidimensionale Persönlichkeit
Der bislang älteste Torschütze einer Fußballweltmeisterschaft (Milla war 1994 beim Ehrentreffer der 1:6-Niederlage gegen Russland bereits 42 Jahre alt) genießt in Kamerun den Rang eines Volkshelden, seine Verehrung hat kultische Formen angenommen. Die Überlieferung seines Ruhmes überdauert Generationen und zieht, mehr als ein Jahrzehnt nach dem Rückzug aus dem aktiven Sport, nicht zuletzt Jugendliche in ihren Bann. Der Pädagoge Yves Ndombol kennt die Gefühlslage sehr genau: “Roger Milla verkörpert heute eine multidimensionale Persönlichkeit, das ist das Geheimnis seines Zaubers.”
Tatsächlich tritt der gefeierte Fußballstar mit einer Vielzahl öffentlicher Funktionen in Erscheinung. Kurz nach dem Unfalltod seiner langjährigen Frau und Wegbegleiterin Evelyne im Jahr 2004 gründete er eine Organisation, die sich dem Kampf gegen die ansteigende Zahl der Verkehrsopfer verpflichtet hat. Milla engagiert sich im Rahmen der Vereinten Nationen gegen AIDS, trägt in TV-Spots zur Aufklärung und Bewusstseinsbildung bei und hat im April 2005 eine eigene Stiftung ins Leben gerufen, die unter dem klingenden Titel “Coeur d’Afrique” (Herz Afrikas) humanitäre Anliegen mit sportlichen vereint.
In enger Verbindung steht die Fußball-Legende auch mit Kameruns Staatspräsident Paul Biya. Der mächtige Herrscher, von dem erzählt wird, dass er seit vielen Jahren in die Aufstellung der Nationalelf eingreift, hat den heute 55-Jährigen zu seinem persönlichen Botschafter und Sonderbeauftragten ernannt. In dieser Rolle reist Milla durch die Welt, besucht den Papst, lächelt mit Spike Lee in Kameras und wirbt um finanzielle Unterstützung für den Damen-Handball seines Landes.
Seit 2006 sind die wichtigsten Stationen des Roger Milla in seiner in Buchform vorliegenden Autobiographie nachzulesen. In Une vie de lion (Ein Löwen-Leben) beschreibt der umtriebige Star in einfachen Ausführungen seine Laufbahn, die im Alter von 14 Jahren bei Eclair de Douala begann und nach Teilnahme an einer Vielzahl von internationalen Bewerben zu einer beachtlichen Menge an Ehrungen und Titeln führte.
Von besonderem Interesse sind dabei die Erfahrungen, die Milla in Europa machen musste. 1982 war mit Kamerun erstmals eine Mannschaft südlich der Sahara in die WM-Endrunde gelangt. “Bis zu diesem Zeitpunkt”, so ist bei Roger Milla nachzulesen, “vertraten einige FIFA-Mitglieder die Meinung, dass eine Qualifikation ein Fiasko für die Weltmeisterschaft bedeuten würde”. Der Rassismus, der dieser Haltung innewohnt, begleitete den Löwen während seiner gesamten Karriere im französischen Klubfußball. Nicht zuletzt vor diesem biographischen Hintergrund warnt der kamerunische Sportsoziologe André Ntonfo, dass Fußball “ein neuer Faktor der Entfremdung, Ausbeutung, Deportation und am Ende der Sklaverei junger Afrikaner” werden könne.
Genie, Milliardär und Leitfigur
Jahrzehnte später ist diese Realität ein Thema, das in der – vielleicht auch durch das unermüdliche Zutun Roger Millas – mit neuem Selbstvertrauen beflügelten Öffentlichkeit nicht tatenlos hingenommen wird. Als Samuel Eto’o Fils im Frühjahr 2006 in einer Begegnung des FC Barcelona mit Real Saragossa wüsten rassistischen Verbalattacken ausgesetzt war, bildeten sich in Kamerun Bürgerkomitees, die ihren Protest gegen die “Barbarei des 21. Jahrhunderts” mit Massendemonstrationen zum Ausdruck brachten. “Wir müssen um Samuel Eto’o einen schützenden Wall errichten”, erklärt der Menschenrechtsaktivist Mboua Massok in einem kämpferischen Manifest, “denn er ist eine Leitfigur, ein Genie, wie es nicht alle Tage geboren wird.”
Die Medienmaschine fährt seither unter Volldampf und in manchen Gazetten finden sich obskure Theorien eines mit Plan verfolgten Unrechts gegen den Fußball Kameruns: 1998 habe der Schiedsrichter die unbezwingbaren Löwen gegen Chile benachteiligt. Bei der WM 1990 in Italien sei der unparteiische Michel Vautrot vom gleichen Gedanken geleitet worden. Und auch 1982 wurde ein Treffer Roger Millas in Spanien nicht anerkannt. Angesichts dieser höchst eigenwilligen Deutungen mehren sich nun auch die kritischen Stimmen, die in der Solidarität zu Eto’o, die vielen anderen Rassismusopfern nicht zuteil wird, vor allem eine Hinwendung zum astronomischen Gehalt des Stürmerstars und dessen regelmäßige Investitionen in die Wohlfahrt seines Herkunftslandes zu erkennen glauben.
Wie auch immer: Mit der Mannschaft von Kamerun, schreibt Pelé im Vorwort zu Roger Millas gedruckten Erinnerungen, habe dieser dem afrikanischen Fußball die Tore zur Welt geöffnet. Mit Samuel Eto’o ist der Mythenbildung um Roger Milla die Generationenübergabe bereits geglückt. Der Tanz der Löwen hat den “Unbezwingbaren” den ersehnten Durchbruch allerdings noch nicht beschert. Jetzt blicken alle in Richtung 2010. Vielleicht gelingt es Kamerun, sich bis dahin von den heroischen Legenden ein wenig zu lösen, und verwirklicht das für die WM in Südafrika anvisierte Ziel des ganzen Kontinents: “Mit Afrika in Afrika siegen!”
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